Auch Santiago hatte einen Hund
Schuss. Nur einer, vollkommen unerwartet, aber der genügte, um Ajiz in die Flucht zu schlagen und meine Pläne von einem gemütlichen Abend am offenen Kamin zerbröseln zu lassen. Sorgen machte ich mir diesmal keine besonderen, denn Ajiz kannte Le Coulet so gut wie ich, er würde, wenn er nicht eh schon von sich aus zum Auto zurücklief, irgendwann bei Dominic auftauchen, oder, schlimmstenfalls, zum Haus nach Saint-Jean laufen. Dass die 20 km für ihn kein Hindernis darstellten, wusste ich ja schon aus früheren Erfahrungen. Aber natürlich ärgerte ich mich, denn zumindest den Versuch, ihn zu finden, musste ich auf alle Fälle machen, ganz so cool nahm ich die Sache nun ja doch nicht - passieren konnte immer etwas. Ich ging also - rufend und pfeifend - zum Auto zurück, wo ich gar nicht überrascht war, Ajiz nicht anzutreffen. In Le Coulet war ebenfalls keine Spur von ihm. Dominic hatte ihn nicht gesehen, versprach mir jedoch, die Augen offen zu halten. Es war Abend und dunkel geworden, länger wollte ich Dominic nicht zur Last fallen, deshalb fuhr ich halt ohne Ajiz nach Saint-Jean zurück, unterwegs immer nach ihm Ausschau haltend, in der vagen Hoffnung, ihn am Straßenrand auf dem Weg zurück nach Hause laufen zu sehen. Doch ich kam ohne ihn im Dorf an. Schon richtete ich mich auf eine unruhige und schlaflose, weil durch die Sorge um Ajiz - die sich mittlerweile ja doch eingestellt hatte - gestörte Nacht ein, als das Telefon klingelte. Dominic teilte mir kurz angebunden mit, ich könne Ajiz bei ihm abholen, zwei Jäger hätten ihn abgegeben. Er sei wie aus dem Nichts aufgetaucht, in den Laderaum ihres Lieferwagens gesprungen und habe diese um nichts in der Welt mehr verlassen. Ein wildfremder Hund, den sie noch nie gesehen hatten! Ich glaube, noch nie bin ich so gerne, so spät und so schnell nach Le Coulet gefahren...
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MITTWOCH, 14. JULI
NANTEUIL-EN-VALLÉE - LUXÉ - ANGOULÊME
Französischer Nationalfeiertag. Alle schlafen länger, nur wir fleißigen Pilger stehen früh auf, wir wollen die Frische des Morgens nützen - und natürlich der Bäcker, bei dem wir uns mit noch warmen, nach Butter duftenden Croissants und pain au chocolat für das Festtagsfrühstück eindecken.
Ab NANTEUIL ist seit kurzem die Nebenroute der VIA TURONENSIS mit finanzieller Unterstützung der EU ausgeschildert - sie führt über ANGOULÊME und AUBETERRE zur in jeder Hinsicht mächtigen Benediktinerabtei La Grande Sauve und umgeht BORDEAUX östlich. Wir müssen sie jedoch schon nach 15 Kilometern wieder verlassen. Ab VERTEUIL-SSUR-CHARENTE heißt es wie schon bisher für uns, mithilfe der Karten einen eigenen Weg zu finden. Was ich übrigens nur wenig bedaure, denn ein Blick auf den Plan in der Herberge zeigt mir, dass das Gewicht lokaler touristischer Interessen den Pilgerweg zu einer Zickzacklinie verformt hat, deren Umwege uns nur zu Arger und Frust führen würden.
Schon bei der Planung der vier Tage mit Ute war mir klar geworden, dass wir es in dieser Zeit zu Fuß auf keinen Fall bis ANGOULÊME schaffen würden. Aber ANGOULÊME muss es sein, weil nur dort der TGV (Train de Grande Vitesse, ein Hochgeschwindigkeitszug) nach PARIS hält. Uns bleibt deshalb nichts anderes übrig, als heute einen Bahnhof anzusteuern und von dort den Lokalzug nach ANGOULÊME zu nehmen. Dieser Bahnhof ist LUXÉ, ein ziemliches Stück südwestlich abseits der markierten Route; in Summe ergibt das eine ganz anständige Etappe. Selbstverständlich begleite ich Ute im Zug, ich werde damit leben müssen, dass ich auf ca. 30 Kilometern „geschwindelt“ habe. Vielleicht hole ich sie später einmal nach, vorerst lasse ich mir darob jedenfalls keine grauen Haare wachsen, es wird mir wohl niemand den Pilgerstatus aberkennen.
Vormittags genießen wir noch die schönen Wege am Fluss (eigentlich Strom, denn er mündet ins Meer), ab VERTEUIL ist dann ein Kontrastprogramm angesagt. Ob es uns recht ist oder nicht, wir müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt in LUXE sein, denn der Zug wartet nicht. Und dies erfordert eigentlich unpilgerliches Verhalten: möglichst rasch, wenn auch zu Fuß, von A (VERTEUIL) nach B (LUXÉ) zu gelangen. Ich entdecke auf der Karte eine kleine, parallel zur Autobahn verlaufende Straße - okay, die nehmen wir. Sie stellt sich in der Folge als gar nicht so arg heraus, da die Autobahn durchwegs auf einem hohen Damm verläuft, wir den Verkehrslärm also nur ziemlich abgeschwächt vernehmen - der Schall wird ja nach oben getragen.
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