Auch Santiago hatte einen Hund
Solange das Gehen noch so angenehm ist, möchte ich so viele Kilometer wie möglich hinter mich bringen und mache meine Trinkpause erst nach fünf Stunden. Also habe ich schon über 20 Kilometer geschafft! Doch dann lichtet sich der Föhrenwald und macht riesigen Pinien Platz, die so hoch sind und so weit auseinander stehen, dass für mich kaum noch Schatten abfällt.
Ziel für die Mittagspause ist heute BESSAOU, die verfallene, uralte Kommende eines kleinen Ritterordens des 12./1 3. Jahrhunderts, für die Pilger damals sicher (über)lebenswichtig - deshalb wurde sie ja in dieser Wüste errichtet -, für mich hoffentlich ein Schatten spendender Kraftplatz. Erst um halb vier bin ich dort, ziemlich am Ende meiner Kräfte. Hitze, Durst und Erschöpfung zwingen mich sogar, nur 20 Minuten vorher an den Stamm einer Pinie gelehnt kurz auszuruhen. Doch der Platz auf einem winzigen, grasbedeckten Hügel übertrifft meine kühnsten Erwartungen. Die Reste einer Kapelle aus dem 12. Jahrhundert sind umgeben von einem Ring alter Eichen - und über allem liegt absolute Stille! Nur widerwillig verlasse ich zwei Stunden später (die Siesta war göttlich!) BESSAOU und werfe mich todesmutig in die Hitzeschlacht. Eigentlich bin ich ein leichtsinniger Bursche, geht es mir durch den Kopf, als ich meine fast leere Feldflasche wieder im Rucksack verstaue. Nur mit einer Karte im Maßstab 1:100.000 die LANDES zu durchqueren, durch welche sich zudem ein dichtes Netz von unmarkierten Sandwegen zieht, also die Gefahr des Verirrens besonders groß ist, spricht nicht unbedingt für Besonnenheit - wenn, ja wenn ich allein auf mich gestellt wäre! Bin ich aber nicht, wie ich gleich nach Verlassen des Zauberplatzes von BESSAOU feststelle. Bei einer Weggabelung, mit nichts als der Himmelsrichtung als Entscheidungshilfe, entscheide ich mich für den nach Süden führenden Weg, der jedoch zuerst unmerklich, dann aber immer klarer nach Osten dreht, eindeutig in die falsche Richtung. Zuerst beschimpfe ich mich, denn falscher Weg bedeutet Umweg bedeutet mehr schwitzen bedeutet höheren Wasserverbrauch, doch langsam beginne ich mir Sorgen zu machen. Bis ich endlich begreife: Ich musste diesen Irrweg gehen! Denn er führt mich zu einem riesigen, verlassenen Gehöft, wo ich in der furchtbar verdreckten Werkstatt, dem einzigen offenen Teil des Gebäudes, einen Wasserhahn entdecke. Ich drehe hoffnungsvoll daran - es kommt Wasser heraus!
Mit vollem Wasserbauch und voller Feldflasche finde ich dann auch einen wirklich nach Süden führenden Weg, auf dem ich, mit Hitze,
Durst und der Einsamkeit als Weggefährten, endlich wieder in bewohntes Gebiet gelange. Dort fülle ich meine leeren Tanks problemlos erneut auf. Die Wüste liegt hinter mir, ich hab’s geschafft!
Ich bin jetzt zwar auf einer winzigen Straße unterwegs - die Gefahr des Verirrens ist gebannt-, aber bis ROQUEFORT sind es mindestens noch zwei Stunden. Wenn ich die Zeit in BESSAOU abziehe, bin ich heute schon zehn Stunden unterwegs. Gut, dass es erst spät dunkel wird, aber auch so werde ich nicht vor Einbruch der Dunkelheit eintreffen. So schalte ich meine Gehwerkzeuge auf Automatik und versuche, Erschöpfung und Durst in den hinteren Bereich meines Bewusstseins zu drängen. Gegen 21 Uhr durchquere ich einen kleinen Weiler, ARUE; weit auseinander liegende bungalowartige Häuser, alle mit großem Garten, säumen die Straße, einige scheinen unbewohnt. Zwar ist mein Ziel nach wie vor ROQUEFORT, doch werde ich, sollte ich wirklich nicht mehr weiterkönnen, in einem dieser Gärten mein Notquartier aufschlagen. Einige verfügen sicher über eine Wasserstelle im Freien. Wobei es dann noch ein Problem zu lösen gäbe, nämlich die Hunde, deren Gebell mich seit dem Moment begleitet, da ich in Sichtweite der ersten Häuser gekommen bin. Doch wieder einmal kommt es ganz anders, denn statt zu einem Problem werden die Hunde zu meiner Rettung. (Das sollte mich eigentlich nicht mehr überraschen.) Um nachzusehen, warum die Hunde nicht zu bellen aufhören, tritt ein Mann vor sein Haus und erkennt sofort, dass ich die Ursache dafür bin. Er kombiniert blitzschnell, dass ein Mann mit Rucksack, Stock und Hut, der im Hochsommer um neun Uhr abends auf der Straße in Richtung Roquefort trottet, erstens ein Pilger ist, zweitens sehr müde sein muss und drittens großen Durst hat. Er lädt mich ins Haus ein, stellt mir eine Flasche Heineken auf den Tisch, dann noch eine, und verfrachtet mich anschließend in sein Auto,
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