Auch Santiago hatte einen Hund
Haustür auf. Ich war es gewohnt, dass Ajiz nach der Ankunft zu Hause immer noch seine obligate Schnupper- und Kontrollrunde in der unmittelbaren Umgebung des Hauses drehte und einen Wasserstrahl abließ, bevor auch er hereinkam. So begann ich erst nach einer Weile leise nach ihm zu rufen und zu pfeifen, da ich meine Nachbarn nicht aufwecken wollte. Als er dann immer noch nicht aus der Dunkelheit auftauchte, stieg in mir langsam, aber sicher Ärger hoch. War er etwa gar auf der Fährte eines Rehs oder eines anderen Waldtieres? Dann würde ich lange auf ihn warten können - statt schlafen zu gehen, was ich eigentlich vorhatte. Nach einer halben Stunde, mittlerweile war es ein Uhr früh, begann ich endlich nachzudenken. Hatte ich ihn, seitdem ich mich von meinen Freunden unter der Haustür verabschiedet hatte, überhaupt bewusst gehört oder gesehen, während der Heimfahrt, zu Hause? Nein! Was aber noch nichts besagte. Denn im Auto war er stets mucksmäuschenstill, beim Aussteigen immer rasch und diskret, als schwarzer Hund in der Dunkelheit eh kaum oder gar nicht wahrnehmbar. Hatte ich vielleicht die tausend Mal geübten Gesten - Ajiz ein- und aussteigen lassen - nur mechanisch ausgeführt, ins Leere hinein, geistesabwesend, ohne darauf zu achten, ob der Adressat dieser Gesten überhaupt anwesend war? Auszuschließen war das nicht, Gewissheit konnte aber nur ein Anruf bei meinen Freunden verschaffen. Obwohl - wenn Ajiz bei ihnen geblieben wäre, hätten sie schon lange bei mir angerufen. Aber wo war er dann? Wie auch immer, um den Anruf kam ich nicht herum, selbst wenn ich sie aufwecken, verärgern oder mich lächerlich machen sollte, weil Ajiz eh in zehn Minuten bei mir an der Haustür kratzend Einlass begehren würde. Ingrid war noch wach - Gott sei Dank! -, und auf meine verlegene Frage, ob ich Ajiz nicht vielleicht bei ihnen vergessen habe, folgte ein verblüfftes „Dann ist es wohl Ajiz, der seit einer Stunde draußen vor der Tür verzweifelt bellt und uns nicht schlafen lässt. Nicht im Traum haben wir daran gedacht, dass er es sein könnte, weil du ihn vergessen hast!“ Der leichte Vorwurf - du Rabenvater! - in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Dreißig Minuten später war ich wieder in Kranebitten, wo ich, der große Superhundebesitzer und -pädagoge, verlegen, verschämt und unendlich erleichtert, meinen vergessenen Ajiz in Empfang nahm. Noch lange danach musste ich mir von Seiten meiner Freunde einige spöttische Bemerkungen gefallen lassen, wenn von Hundeliebe die Rede war.
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DONNERSTAG, 29. JULI
ROQUEFORT - MONT-DE-MARSAN
Langsam komme ich mir vor wie Beethoven, der bei seinen Symphonien auch nie ein Ende fand. Zuerst war LA RÉOLE meine Schlussetappe; dann die erste Zugabe bis CUDOS; und einige Ruhetage später das Kribbeln in den Füßen, dem ich nicht widerstehen konnte. Doch seit gestern Abend spüre ich dieses Kribbeln nicht mehr, ich bin „geheilt“. (Die 50 Kilometer von gestern waren wohl die richtige Therapie.) Mit heute ist unwiderruflich Schluss! Ich geh noch bis MONT-DE-MARSAN, das sind etwa 25 Kilometer - ein schöner, nicht zu abrupter Ausklang. Die Hauptstadt des Departements Landes spielte auf der VIA LIMOVICENSIS zwar keine besondere Rolle, sodass sie nicht gerade den idealen Endpunkt meiner Pilgerreise darstellt, aber sei’s drum. Die Luft ist draußen, ich mag nicht mehr. Fehlende Motivation ist wie fehlender Treibstoff - rien ne va plus.
Vor sieben Uhr bin ich aus den Federn (ich scheine mich tatsächlich daran zu gewöhnen), damit mir noch Zeit für einen Rundgang durch den malerischen, im Mittelalter befestigten Ort bleibt (ROQUEFORT bedeutet „befestigter Felsen“). Unweit der Pfarrkirche entdecke ich sogar eine Jakobskapelle, leider ist sie geschlossen; besonders beeindruckend sind jedoch die Reste der alten Befestigungsanlagen, welche zum Schutz der Route d’Espagne (die alte Heerstraße nach Spanien) dienten. Im Café de la Paix gebe ich den Herbergsschlüssel zurück und erhalte bei der Gelegenheit wichtige Informationen über den Wegverlauf bis MONT-DE-MARSAN. Oje, meine Freunde, die Touristiker, haben sich wieder durchgesetzt! Der Weg verläuft weit abseits der historischen Strecke durch einige Dörfer, fast durchgehend auf Asphalt, und zu allem Überfluss ist er nach meiner Berechnung insgesamt etwa sechs bis acht Kilometer länger. (Schon interessant: Die einzigartige Kommende von BESSAOU, erwiesenermaßen eine wichtige Station auf dem Pilgerweg,
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