Auch Santiago hatte einen Hund
romanischen Abtei von BLASIMON, mit übrigens schauderhaftem Gesang; dann Besuch einiger schöner befestigter Dörfer im ENTRE-DUEX-MERS, mit Jean-Jacques als kundigem Fremdenführer; und zu Mittag große Festtafel bei Marie-Noelle. Groß, sowohl was die Zahl der Esser als auch was die Quantität und Qualität des dargebotenen Mahls betraf. (Apéritif, Austern, Lammkotelett, Salat, Obst, Käse, Rot- und Weißwein). Nach dem Essen Siesta -auch essen macht müde -, lesen, Spaziergang mit Jean-Jacques (sie leben auf einem Bauernhof mit Schafen, Eseln, einem Pferd, Hühnern, zwei Katzen und einem prachtvollen, wunderschönen, schneeweißen Pyrenäenhund namens d’Artagnan, mit dem ich sofort innige Freundschaft schloss), und um acht Uhr Abendessen. Was für ein Leben! Na ja, halt wie Gott - oder seine Pilger - in Frankreich.
Gestern, Montag, waren Manu und Finou vom Urlaub zurückgekehrt, sie mussten sich gleich in die Arbeit stürzen - beide sind selbständig -, aber ihre drei Kinder kümmerten sich rührend um den ami autrichien. Wir besuchten das älteste Rathaus Frankreichs, errichtet im 12. Jahrhundert unter Richard Löwenherz, sowie die Kathedrale SAINT-PIERRE, die zum Kloster gehörte, das der Benediktinerorden schon im 10. Jahrhundert zum Schutz und zur Kontrolle des strategisch enorm wichtigen Übergangs über die Garonne gegründet hatte. (Der Schutz der Flussübergänge war übrigens eine wichtige Aufgabe der Orden in ganz Europa.) Der Name der Stadt LA RÉOLE leitet sich im Übrigen von regula, der Regel des hl. Benedikt, her. Beim Stöbern - ich geb’s zu, es war schon mehr als Stöbern - in einer Buchhandlung stieß ich auf Karten für die Strecke von der Garonne nach Süden, also durch die LanDES (ein riesiges, heute dicht bewaldetes Gebiet, im Mittelalter von den Pilgern gefürchtetes sumpfiges, menschenleeres Heideland) bis zum Fuß der Pyrenäen, und ehe ich mich versah, landeten sie in meiner Tasche. Irgendwann gehe ich die Strecke sicher, dachte ich mir, da kann
Am Garonne-Kanal
ich die Karten ja gleich kaufen. Aber ich spürte schon wieder ein verräterisches Kribbeln in den Füßen. Mal sehen. Noch war meine Muskel- oder Sehnenzerrung nicht vollständig abgeklungen, der Unterschenkel geschwollen. Deshalb bestand der Rest des Tages ausschließlich aus Faulenzen - ungewohnt, aber so erholsam.
Seit heute Mittag ist es beschlossene Sache: Vom Basislager LA RÉOLE aus möchte ich noch ein paar Tage weitergehen. Ich stecke mir kein Ziel, jederzeit kann ich abbrechen, vollkommen unverbindlich. Es hat sich gestern schon abgezeichnet, als Pierre, Anaïs und Sibylle, alle drei gute Geher, den Wunsch äußerten, mich ein Stück am Jakobsweg zu begleiten. Warum eigentlich nicht? Mir fehlte ohnehin der Abschnitt vom Stadtzentrum hinaus zum Haus von Marc, etwa sechs Kilometer nach Süden. Die ideale Distanz für eine Kinderetappe. Dann kamen noch die drei Kinder von Marc und Veronique dazu, plus ihre Freunde.
Das Pilgersein machte den Kindern riesigen Spaß. Jedes wollte seinen eigenen Pilgerstab und jedes trug ihn voller Stolz und Würde nicht nur bis zu Marcs Haus, sondern auch wieder den ganzen Weg zurück. Denn zu meiner Überraschung weigerten sich alle, auch die Jüngsten, im Auto nach LA RÉOLE zurückzufahren. Eine unvergessliche Etappe, se Kinderetappe, auch für mich (und viel friedlicher als der berüchtigte Kinderkreuzzug im Mittelalter). Zwölf Kilometer sind auch nicht so übel, oder? Auf jeden Fall war es weit genug, um das Kribbeln in meinen Füßen unwiderstehlich werden zu lassen...
Morgen früh werde ich wieder on the road sein, mit offenem Ende. Manu hat sich bereit erklärt, mich nach CUDOS zu bringen, damit ich genau dort anknüpfen kann, wo ich am Samstag aufgehört habe. Freunde wie ihn und seine Frau gibt es selten. Ich bin mir meines Glücks sehr wohl bewusst.
Den morgigen Tag werde ich ihnen und ihren Kindern widmen...
Letzte „Flucht“
Das Leben mit Ajiz war ruhiger geworden, schon lange nicht mehr war er abgehauen. Diese Zeiten waren wohl vorbei. Er war reif und würdevoll, gut erzogen, seine Interessenlage hatte sich im Alter eindeutig von der Vertikalen in die Horizontale verschoben. Die Müdigkeit, die Gebrechlichkeit, die Gelassenheit des Alters ergänzten sich zu einem harmonischen Ganzen. Warum sollte es bei Hunden anders sein als bei Menschen? Seine „Fluchten“, die Aufregung und die Sorge um ihn gingen mir überhaupt nicht ab, auch ich genoss die
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