Auch Santiago hatte einen Hund
nicht daran gedacht, Entschuldigung.“
Ihre Nachlässigkeit hatte mir zwei schlimme Tage beschert, aber die Freude über Ajiz’ Auftauchen überwog den Ärger. Er war nach der Attacke des Schäferhundes in seiner Panik auf der Suche nach einer schützenden Höhle bis ins Zentrum von Innsbruck gelaufen und hatte sich dort in einem Nachtlokal (interessante Ortswahl) unter der Treppe verkrochen. Gäste des Lokals fanden zwar auf seinem Halsband meine Telefonnummer, die beiden letzten Ziffern waren jedoch durch Abrieb unleserlich geworden und so konnten sie mich nicht benachrichtigen. Eine Kellnerin hatte ihn dann gefüttert und mit zu sich nach Hause genommen. Mit Mühe hatte sie ihn ihren Kindern am nächsten Morgen entrissen - sie wollten den schönen und sanften Hund natürlich behalten - und ihn ins Tierheim gebracht. Samstagmittag war er wieder bei mir, mein armer, alter, verlorener Freund Ajiz. Er war so verletzlich geworden...
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MITTWOCH, 28. JULI
CUDOS - ROQUEFORT
Manu weckt mich um sechs Uhr, er bringt mich im Auto nach CUDOS. (Irgendwann und irgendwie werde ich ihm seine unzähligen Freundschaftsdienste „heimzahlen“, das nehme ich mir fest vor.) Kurz nach sieben verabschieden wir uns, dann bin ich wieder allein mit und auf meinem Weg. Heute geht es für viele Kilometer in einem Föhrenwald schnurgerade auf der Trasse der aufgelassenen Eisenbahn nach Süden. Es ist ein Traum, ausgeruht und in der Frische des Morgens durch den grünen Tunnel kräftig auszuschreiten! Kein Mensch, kein Haus, keine Straße, kein Auto reißen mich aus diesem Traum, der Weg gehört mir ganz allein.
„So könnte ich ewig weitergehen“, überlege ich mir kurz, wirklich nur kurz, denn ich weiß, dass ich unter der unbarmherzigen Nachmittagssonne anders denken werde. Nur zweimal werde ich auf äußerst unangenehme Weise daran erinnert, dass außer mir auch andere Menschen diesen Weg benützen. Schon von weitem sehe ich etwas Rosarotes auf dem Weg liegen, das sich beim Näherkommen als Toilettenpapier herausstellt. Benütztes Toilettenpapier, denn es schmückt einen ansehnlichen Haufen menschlicher Notdurft. Mitten auf dem Weg, wo sich links und rechts kilometerweit menschenleerer Wald erstreckt! Wem sind da wohl alle zivilisatorischen Sicherungen durchgebrannt? Zweieinhalb Stunden später, bei meinem heutigen Tempo auf dem schnurgeraden Weg ohne jegliche Steigung sicher eine Entfernung von 12 bis 13 Kilometern, der gleiche ungustiöse Fund. Also ein Wiederholungstäter, der aber offensichtlich - der große Abstand zwischen den beiden Tatorten weist darauf hin - kein Spaziergänger, sondern ein Weitwanderer ist. Gar ein Pilger? Da fällt mir die Eintragung im livre d’or der Herberge in PELLEGRUE ein, wo sich ein französischer Pilger über seinen Vorgänger beschwert, der einen Saustall hinterlassen hat. Das könnte er sein - und ich bin ihm knapp auf den Fersen! Also dem möchte ich auf keinen Fall begegnen. Wie weit muss man in seiner Einsamkeit, fern jedes sozialen Gefüges, gesunken sein, um so tief zu landen? Hoffentlich finde ich das für mich selbst nie heraus...
Heute habe ich Tollkühnes vor. Es bleibt mir zwar ohnehin keine andere Wahl, aber es reizt mich auch. In der riesigen Wald- und Sandwüste der LANDES sind Übernachtungsmöglichkeiten noch spärlicher gesät als weiter nördlich. Hier wird die Länge der Etappen zwingend durch die seltenen Ortschaften definiert, die ich zum Übernachten ansteuern muss. Da ich mich aber mithilfe des Basislagers LA RÉOLE darüber hinwegsetzen konnte, bin ich über den obligaten Pilgerstopp BAZAS hinausgegangen. Nächster Schlafplatz wäre dann eigentlich CAPTIEUX, wie z. B. für den „Notdurft-Pilger“ vor mir (deshalb der große Abstand zwischen den Tatorten, beide jeweils etwa eine Stunde nach dem Übernachtungsort BAZAS bzw. CAPTIEUX; d. h. die Untat erfolgte in den Morgenstunden nach dem Aufbruch - naheliegend, wie wir alle wissen). Da ich CAPTIEUX jedoch schon um elf Uhr passiere, finde ich erst wieder in ROQUEFORT einen Schlafplatz, was in Summe eine 50-Kilometer-Etappe ergibt. Unterwegs im Freien übernachten ist wegen mangelnder bzw. gar nicht vorhandener Wasserstellen ausgeschlossen, ich würde große Probleme bekommen. Ich kann schon froh sein, wenn ich meine Feldflasche hin und wieder bei den dünn gesäten, vereinzelten Gehöften auffüllen kann.
Die ersten Stunden im „grünen Tunnel“ der Eisenbahnschneise vergehen jedenfalls wie im Flug.
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