Auch Santiago hatte einen Hund
um mich nach Roquefort zu chauffieren. Vier Kilometer wären es noch gewesen. Im Café de la Paix, wo ich den Schlüssel für die Herberge bekomme, lade ich meinerseits Jerome auf ein demi, wir plauschen noch eine Weile und es wird 23 Uhr, bis ich in der neuen, kleinen, blitzsauberen Herberge unter der Dusche stehe. (Kilroy was not here, meinen Notdurftpilger habe ich mit meiner heutigen Monsteretappe vielleicht schon überholt.) Um halb zwölf gibt es ein verspätetes Abendessen, und als ich vor dem Schlafengehen vor der Herberge in der lauen Sommernacht noch meine Gute-Nacht-Zigarette rauche, ist von Erschöpfung nichts mehr zu spüren. Müde bin ich, das ja, doch zugleich rundherum zufrieden - und stolz. Elf Stunden, 50 Kilometer, unter diesen extremen Bedingungen, danke, Jakobus, dass ich das bewältigt habe!
Der Vergessene
Wie mittlerweile sicher allen Lesern klar ist, hat Ajiz in meinem Leben eine ganz wichtige Rolle gespielt. Oft erschrecke ich heute noch Freunde und Bekannte mit der Aussage, dass mich Ajiz, wenn ich nach Hause kam, nie auf die Art und Weise begrüßte, wie es allgemein von Hunden bekannt ist - freudig bellen, japsen, an einem hochspringen, im Kreis um einen herumlaufen, zum Spielen auffordern usw. Da sie meine Beziehung zu Ajiz kennen, hätten sie nie eine distanzierte, gleichgültige Begrüßung durch Ajiz erwartet, worauf meine Aussage schließen lässt. Erst nachdem ich mich an ihrer Reaktion erfreut habe - selten werde ich da enttäuscht -, kläre ich den Irrtum auf: Ajiz begrüßte mich bei meiner Rückkehr deshalb nicht freudig, weil er gar nicht zu Hause war, sondern erst mit mir gemeinsam nach Hause kam! Es stimmt: Ich konnte ihn fast überallhin mitnehmen und tat es auch. Wir galten als unzertrennlich und heute noch fragen mich viele, wie ich es allein, ohne ihn, aushalte. (Nicht besonders gut, aber das ist jetzt nicht das Thema.)
Umso erstaunlicher mutet es deshalb an, dass ich Ajiz einmal tatsächlich nach einem Besuch bei Freunden vergessen habe. Bisher hatte ich immer ungläubig den Kopf geschüttelt, wenn ich von Müttern oder Vätern hörte, die ein Kind im Kaufhaus, im Vergnügungspark oder sonstwo vergaßen. Wie kann das bloß passieren? Ich kann doch ein Kind, mein Kind nicht einfach irgendwo vergessen, spielt es in meinem Leben doch eine zentrale Rolle, trage ich für dieses Kind doch die Verantwortung! Heute weiß ich, es ist möglich.
Ingrid, Toni und ich hatten wieder einmal einen netten Abend miteinander verbracht. Ziemlich regelmäßig besuche ich die beiden, mit denen ich seit Jugendtagen befreundet bin, in ihrem Haus in Kranebitten, dem westlichsten Stadtteil von Innsbruck. (Toni hat vor ein paar Jahren begonnen in Andalusien Wüstenpflanzen zu züchten, und kommt kaum mehr nach Tirol, das ihm zu kalt ist.) Ajiz war bei ihnen ein genauso gern gesehener Gast wie ich, besonders Toni mochte ihn sehr und er war einer der wenigen, denen es gelang, den wenig spielfreudigen Ajiz sogar noch im fortgeschrittenen Alter zum Spielen zu animieren. Beide wälzten sich dann wie junge Welpen auf dem Teppich im großen Wohnzimmer, zum Gaudium aller anderen.
Gegen Mitternacht verabschiedete ich mich von der Gastgebern, ließ Ajiz hinaus und öffnete auch gleich die Autotür, damit er seinen gewohnten Platz auf der Rückbank einnehmen könne. Ich selbst blieb noch ein paar Minuten mit Toni und Ingrid an der Haustür stehen - anscheinend gibt es da ein ungeschriebenes Gesetz, nach dem es nicht erlaubt ist, sich schnell zu verabschieden -, um letzte, wichtige Erkenntnisse auszutauschen, bevor ich ins Auto stieg und mich auf den Heimweg machte. Während der gesamten Fahrt auf den etwa 30 Kilometern hörte ich wie gewohnt Musik, Ajiz auf der Rückbank gab - ebenfalls wie gewohnt - keinen Mucks von sich. (Er war der perfekte Beifahrer: Nie wurde ihm schlecht, er hatte - bis auf einige wenige, krankheitsbedingte Ausnahmen - stets volle Kontrolle über seine Körperfunktionen, döste entweder vor sich hin oder schaute aus dem Fenster, indem er seinen Kopf auf meine linke Schulter legte. Auf längeren Fahrten, wenn ich Kekse oder Schokolade naschte, reichte ich ihm, ohne mich umzudrehen, hin und wieder ein Stück zurück und spürte dann, wie seine weiche Schnauze den Leckerbissen sanft von meiner Handfläche nahm.)
Zu Hause angekommen stieg ich aus dem Auto, klappte den Fahrersitz vor, damit Ajiz leichter aussteigen könne, ging durch meinen kleinen Garten und sperrte die
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