Auch Santiago hatte einen Hund
ruhigeren Zeiten.
Doch ich wähnte mich in trügerischer Sicherheit. Einmal noch sollte ich Ajiz vermisst melden, ihn verzweifelt suchen, mir die schlimmsten Unfälle ausmalen. Und dieses Mal würde kein Hauch von Ärger dabei sein, nur Mitleid und Sorge.
Ich war auf dem Weg zu einem Dia-Vortrag, den ich über unsere Pilgerreise nach Santiago halten sollte, es war ein Novemberabend, schon früh war es dunkel geworden. Uns blieb noch fast eine Stunde bis zum Beginn des Vortrags, deshalb beschloss ich, mit Ajiz vorher noch eine Runde zu gehen. Untertags war er wenig rausgekommen, und obwohl sein Bewegungsbedürfnis nicht mehr so ausgeprägt war wie in seinen jungen Jahren, gut tat ihm - und mir - Bewegung immer noch. Er ging wie immer unangeleint neben mir, aber als ich in einiger Entfernung eine Gruppe von Kindern mit einem angeleinten Schäferhund auf uns zukommen sah, nahm ich ihn vorsichtshalber ebenfalls an die Leine. Und dann ging alles sehr rasch. Kaum hatte der Schäferhund Ajiz erblickt, stürmte er auf uns zu, den Buben auf Skatern, der ihn an der Leine hielt, mühelos hinter sich herziehend. An der Gehsteigkante kam der Bub zu Sturz und ließ die Leine los, sodass einer aggressiven Attacke auf Ajiz nichts mehr im Weg stand. Der Bub schrie auf seinen Hund ein, natürlich ohne jegliche Wirkung. Ich ließ Ajiz von der Leine, damit er wenigstens eine kleine Chance hätte, aber bald hörte ich nur mehr das verzweifelte Jaulen von Ajiz, der - bald 12 Jahre alt! - gegen den jüngeren, stärkeren und aggressiven Hund nicht den Funken einer Chance hatte. Es fuhr mir durch Mark und Bein, und ohne daran zu denken, dass ich verletzt werden könnte, begann ich in meinem Zorn und in meiner Ohnmacht den Aggressor mit Fußtritten zu traktieren. Irgendwie musste ich Ajiz ja helfen, bevor ihn der andere übel zurichtete. Und tatsächlich ließ der Schäferhund (sicher ein „Rex“, wie praktisch alle Schäferhunde) nach einer Weile von Ajiz ab. Der hilf- und ratlos neben mir stehende Bub konnte endlich wieder die Leine seines Hundes schnappen, Ajiz war gerettet. Doch in seiner Panik - wie entsetzlich muss diese plötzliche Attacke für ihn gewesen sein! - nahm er Reißaus und rannte, so flink er konnte, in Richtung Stadtzentrum davon. Ich lief und rief ihm nach, vergebens, denn er war noch immer ganz schön schnell und hörte mich wahrscheinlich nicht einmal.
Eine kurze Suche in der näheren Umgebung ergab natürlich nichts, niemand hatte ihn gesehen, in der Dunkelheit nicht überraschend. Ich meldete den Vorfall bei der Polizei, informierte Freunde, die in der Umgebung des „Tatorts“ wohnten, und kam beträchtlich verspätet zur Schule, wo 150 Menschen ratlos, aber geduldig auf den Referenten warteten. Mitleid und Anteilnahme des Publikums taten mir gut, viele kannten und mochten Ajiz (siehe Kap. 29), die Hundebesitzer unter ihnen fühlten besonders mit mir mit. Eine Zuhörerin, Besitzerin eines Golden Retrievers, startete am nächsten Tag, einem Donnerstag, mit dem Retriever-Club sogar eine große Suchaktion! Mittwochabend war Ajiz verschwunden, am Donnerstag verständigte ich noch die Präsidentin des Tiroler Tierschutzvereines, gleichzeitig Leiterin des Tierheimes, mit dem Ajiz vor langer Zeit schon einmal Bekanntschaft gemacht hatte. Donnerstag und Freitag verstrichen ergebnislos, meine Angst um Ajiz nahm zu, meine Hoffnung ab. Das Wissen, dass Ajiz auch nach Hause (20 km von Innsbruck, auf 1000 m Seehöhe) finden würde, steigerte meine Befürchtungen, denn dazu musste er die Autobahn und mehrere vielbefahrene Straßen überqueren. Nachts lag ich lange wach, sah ihn - ängstlich, verletzt, verwirrt - im tief verschneiten Wald den Weg zu mir suchen, vermutete hinter jedem Geräusch meinen Freund, der nach Hause gekommen war und an der Tür kratzend Einlass begehrte. Samstag früh gaben mir Freunde schließlich den Tipp, der mein Martyrium beenden sollte. Sie wiesen mich auf jene zentrale Stelle der Polizei hin, bei der alle Meldungen der Streifenwagen zusammenlaufen. Wenn also jemand etwas gemeldet habe, müssten die dort Bescheid wissen. So war es dann auch. Donnerstag (!) nachmittags war laut ihrer Aussage ein schwarz-weißer Hund im Tierheim abgegeben worden. Sofort rief ich die Leiterin an, und tatsächlich, es musste Ajiz sein! Auf die Frage, warum sie mich nicht wie versprochen verständigt habe, da sie ja schon von mir die Meldung über Ajiz’ Verschwinden bekommen hatte, antwortete sie nur: „Ich habe
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