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Auch unter Kuehen gibt es Zicken

Auch unter Kuehen gibt es Zicken

Titel: Auch unter Kuehen gibt es Zicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Michalke
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Selma muss ich auch holen, in der Früh und am Abend. Dazwischen zickzack über die Alm laufen mit meiner Viecherliste. Käsen. Den Misthaufen umschaufeln, damit wieder Platz ist vor dem Mistschub.
    Wenn’s dunkel wird, hab ich wacklige Kniescheiben und verschwinde einfach unter meiner Daunendecke. Manchmal geht das warme Wasser in der Dusche plötzlich aus, und ich geh mit Schlamm und Kälbermist in den Haaren ins Bett, weil ich zu müde bin, um warmes Wasser in einen Eimer zu schütten, und viel zu müde, um mich mit kaltem Wasser fertig zu duschen. Sogar im Schlaf komm ich mir vor, als hätte mich jemand auf eine Hebebühne gefahren, auseinander montiert und eine lange Liste von Ersatzteilen bestellt. Aber zum Einbauen kommt er nicht mehr.
    Tag 8
Um drei viertel sechs klingelt der Wecker. Ich stehe schon barfuß auf der regennassen Terrasse, weil die Nika kotzen muss. Ich sehe die Sonne, die über der Kampenwand aufgeht, hinter dem Wolkenvorhang. Hellgrau. Und mit einem Mal fällt mir das Wort »Erneuerung« ein.
    Das ist ein gutes Wort. Und es ist ein guter Prozess. Das ist ja das, was ich wollte. Vorgestellt hab ich mir das allerdings ein bisschen anders. Ein bisschen weniger anstrengend.
    Es hat drei Grad plus heute früh.
    Kälber raus und Selma suchen.
    Ich such sie nach Gefühl, denn hören tu ich sie überall. Der Nebel wirft ein Echo von den Glocken zurück. Irgendwann stehe ich in einem Stück Wald, so unwirtlich und totenstill, dass ich sie dort nie vermutet hätte. Nie. Aber das istder einzige Fleck, wo ich noch nicht war. Also krabble ich hinein, unter abgebrochenen Baumstämmen durch, zwischen Büschen und Fichtenkoppen, über Felsbrocken, die der Berg nach und nach hier runtergeschmissen hat, wenn ihm langweilig war, und – natürlich – durch einen Sumpf. 80 Zentimeter tief, den Schlammrand an meinem Hosenbein habe ich später nachgemessen.
    Und da sind sie. Endlich. Sie stehen fast in einem perfekten Kreis zusammen. Umrahmt von drei liegenden Baumleichen. Keins rührt sich. Nicht ein einziges Bimm von einer Glocke ist zu hören. Gespenstisch.
    »Was is’n mit euch los?«, flüstere ich.
    Die Selma ist die Einzige, die mich anschaut. Ich zähl sie. Und dann hakl ich sie alle ab auf meinem nassen Papierlappen von Liste. Alle anwesend. Aber trotzdem, irgendwas ist seltsam. Und dann seh ich die Schrammen auf dem Rücken der großen roten Koim mit der Nummer 18805.
    Sie lässt sich nicht anfassen. Das ist eine von denen, die nie zutraulich werden. Sie hat einen abwesenden Blick. Einen Ich-spür-meinen-Körper-gar-nicht-Blick. Eine kalte Abfolge von Fotos läuft durch meinen Kopf. Absturz. Innere Verletzungen. Blut. Telefon. Metzger. Notschlachtung. Hubschrauber. Kadaver rausfliegen ...
    Noch mal untersuche ich jedes Tier. Stupse sie alle an, damit ich sie ein paar Schritte laufen sehe. Von den anderen hat keins auch nur einen Kratzer. Nur die 18805. Was mach ich?
    Nichts. Warten.
    Wenn ihnen nichts weiter fehlt, werden sie irgendwann anfangen zu fressen. »Wenn’s frisst und niederrochad, ’na feit eahm nix«, hat der Hias immer gesagt.
    Ich setze mich also auf den nassen Buchenstamm.
    Ich weiß nicht, ob ich dem allem gewachsen bin. Der Stille. Dem Berg. Den Sorgen. Dem Wetter. Dem dauernden Nichtwissen. Niemanden fragen können. Und der Zeit. Der langsamen Zeit.
    Der Regen hat sich in einen feinen Nieselvorhang verwandelt. Und dann macht vor mir etwas leise bimm-bimm. Sie fangen an zu grasen. Glück g’habt. Ein ganz normaler Tag.
    »Selma, geh weiter.«
    Ich muss den Käse von heut Vormittag noch aus seiner Form holen und den von gestern in den Keller bringen.
    Aber das Tuch, unter dem der Käse sein müsste, ist weg. Und der Käse selber auch. Komisch, hab ich den schon runtergebracht?
    Nein. Im Käsekäfig drunten hocken nur die zwei festen, runden Laibe, die der Charly dagelassen hat, und drei von mir.
    Ich muss noch mal auf dem Küchenbüfett nachschauen ...
    Da seh ich das Abdecktuch unterm Tisch.
    Daneben macht ein hellbraunes Fellwuschel Sitz und klimpert mich mit sehnsuchtsvollen Augen an.
    »Nika!«
    Kääää-seee?
    Hat die den ganzen Käse gefressen? Und ich wunder mich, warum sie in der Früh kotzen muss. Ah!!
    Auf den von heute werd ich besser aufpassen. Ich hebe den Deckel vom großen schwarzen Topf. Und mach ihn gleich wieder zu.
    Den kann ich vergessen. Stinkend und schon gelb hat er sich in seine Form gebacken.
    Na, toll. Wird der da jemals wieder rausgehen? Ich rüttle.

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