Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht. (German Edition)
und es immer wieder Situationen gibt, in denen sich dieser und jener Strang mit einem anderen Strang kreuzt. Daraufhin entstehen die verschiedensten Irritationen und dann sitzen dort halt Leute, die sich kennen, die wiederum Leute kennen, die sich auskennen, und dann wird vieles hin und her geschoben, Informationen, Waren, Geschichten, Witze, und vieles entsteht, wird besprochen, weitergeleitet, wieder zurückgenommen und manches wird aus der Welt geschafft.
Wenn man über diese Orte spricht, dann fallen ganz schnell die Begriffe »Parallelgesellschaft« und »Selbstjustiz«. Rein rechtlich, rein staatstheoretisch gesehen, mag das seine Berechtigung haben, wobei es sich aber in den meisten Fällen eher um eine Art autonome Selbstverwaltung handelt. Auch das ist rechtlich nicht abgesichert und ich verstehe die Kritik an diesen Strukturen, aber wenn ich weiß, wer mein Auto gestern kaputt gemacht hat, und ich zufälligerweise jemanden kenne, der denjenigen kennt, dann rufe ich eben meinen Bekannten an und lass dem Schuldigen ausrichten, dass er mein Auto reparieren soll. Dann reden wir darüber, ob ich wirklich recht habe, und wenn ich recht habe, repariert der mein Auto. So spare ich mir den Anruf bei der Polizei, die es sowieso nicht interessiert, ob da eine Beule in meinem Auto ist, ich spare mir die zwölf Wochen Bearbeitungszeit bei der Versicherung, die mich eh wieder nur als Versicherungsbetrüger dastehen lassen will. Dadurch, dass ich einfach meinen Bekannten Saleh anrufen kann, spare ich mir diese ganzen komplizierten Vorgänge, indem ich ihm sage: »Hey, dein Cousin Ahmet hat mein Auto kaputt gemacht, sag ihm Bescheid«, und innerhalb von einer Stunde ist das Ding geritzt. Das macht doch vieles einfacher und ist in Deutschland auf dem Dorf, wo man sich untereinander noch kennt, wahrscheinlich nicht wesentlich anders. In Bayern, wenn der Schorsch dem Anton nach dem Wirtshausbesuch den Mercedes kaputt gefahren hat und der Anton den Bruder vom Schorsch gut kennt, dann werden die wahrscheinlich auch nicht die Polizei rufen, sondern die Dinge unter sich klären. Das ist der eine Teil der Geschichte und ich persönlich finde, dass ein Teil meiner Interessen in diesen Strukturen fast besser vertreten wird als beispielsweise durch Anwälte, Polizisten oder Richter. Außergewöhnlich und staatsgefährdend sind diese Vorgänge also nicht unbedingt, wobei natürlich immer das Problem besteht, dass da auch Dinge geklärt werden, die über Autobeulen hinausgehen, und dass es sicher auch Bereiche gibt, die, rechtlich gesehen, in einer Grauzone liegen oder sogar darüber hinausgehen.
Im Fernsehen und in den Zeitungen taucht immer wieder der Begriff »Friedensrichter« auf, als ultimative Inkarnation von Chaos und Anarchie. Ich will an dieser Stelle gar nicht bestreiten, dass es solche Friedensrichter tatsächlich gibt, aber diejenigen, die da in den Medien auftauchen, sind es nicht. Das Prinzip der Friedensrichter gibt es aber wirklich, da geht es auch um durchaus ernste Themen, es wird praktiziert und es gibt auch viele Menschen, die diese Autoritäten akzeptieren, sie respektieren und die dann auch mit den Entscheidungen, die dort gefällt werden, leben.
Dies steht dem deutschen Rechtsempfinden und dem Bestehen des Staates auf seinem Gewaltmonopol und auf dem Monopol der Rechtsprechung frontal entgegen, liegt aber darin begründet, dass viele Menschen aus diesen ethnischen Gemeinschaften Probleme mit dem deutschen Staat und seiner Justiz haben. Theoretisch ist Deutschland ein ganz fantastischer Rechtsstaat, wie ich immer wieder gerne betone, und trotzdem erscheinen die bürokratischen Regelungen manchen als zu schwierig, vieles versteht man gar nicht, weil es so kompliziert ist, und schließlich ist die Juristerei noch nicht einmal für den ganz normalen Deutschen durchschaubar. Oft hindern sie auch einfach sprachliche Barrieren daran, das Rechtssystem in Anspruch zu nehmen. Das passiert weniger aus Boshaftigkeit und dem Willen heraus, diesen Staat zu zersetzen, als vielmehr aus purer Hilflosigkeit. Auch machen sie in manchen Fällen vielleicht schlechte Erfahrungen und sind dann enttäuscht und glauben nicht mehr an den Rechtsstaat. Sie fürchten, dass ein deutsches Gericht ihre Lebensumstände und auch ihren kulturellen Hintergrund nicht berücksichtigt, und glauben nicht daran, dass sie vor einem deutschen Gericht Recht bekommen, selbst wenn sie im Recht sind. Sie glauben nicht daran, dass ihnen wirklich jemand
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