Auf Befehl des Königs
Zinnen des Burgturms sehen, wo sie vor kurzem neben Orrick den Sonnenuntergang beobachtet hatte. Die Burganlage schien mit dem Felsen verwachsen und wirkte wie die Speerspitze eines Riesen, die aus dem Meer in den Himmel ragte.
"Vor mehr als fünfzehn Jahren gab der König meinem Vater die Erlaubnis, eine Bastion aus Stein zu erbauen, an Stelle der alten Feste aus Holz. Der Architekt meines Vaters verstand es geschickt, die Felsklippen einzubeziehen." Orrick beugte sich zu ihr und wies mit dem Arm landeinwärts nach Norden. "Vom Meer her hebt sich die Festung nicht vom Felsen ab."
"Dann können Feinde, die sich vom Meer her nähern, gar nicht erkennen, dass dort oben eine Trutzburg steht."
"Genau. Mein Vater war ein kluger Mann."
"Den Eindruck habe ich auch. Steigt die Flut bis zu dieser hellen Linie in der Felswand?" Marguerite wies mit dem Arm zu der Stelle, wo die Brandung die Gesteinsschichten geglättet hatte."
"Ja. Außerdem steigt das Wasser in der Bucht von Westen und von Norden her. Deshalb können feindliche Schiffe an diesem Küstenstreifen nicht ankern. Sie würden zerschellen."
Marguerite beobachtete die Brandung, die sich mit weißer Gischt an den Felsbrocken brach. Anscheinend hatte die Ebbe eingesetzt, denn jede anrollende Brandungswelle gab etwas mehr Land frei. Während sie das ewige Spiel der Wellen beobachtete, bemerkte sie, dass weder Wachen noch Diener zu sehen waren. Fühlte Orrick sich so sicher auf seinem Besitz?
"Ist Silloth in der Vergangenheit angegriffen worden?"
"Ja. Immer wieder im Verlauf der Jahrhunderte. Wegen ihrer strategisch günstigen Lage war die Burg ein begehrtes Ziel der Angeln, Wikinger, Schotten und zuletzt der Engländer. Im Laufe ihrer langen Geschichte hat die Festung ebenso häufig den Besitzer gewechselt wie die Herrscher, welche das Land eroberten."
Orrick tätschelte die Flanken seines Pferdes, setzte es in Bewegung, und Marguerite folgte ihm zu einer schmalen felsigen Landzunge, die ins Meer hinausragte. Dort schwang er sich aus dem Sattel und half ihr vom Pferd. Er befestigte die Zügel beider Tiere mit einem schweren Stein, um zu verhindern, dass die Pferde sich selbstständig machten, band den Essensbeutel und den Weinschlauch ab. Dann nahm er Marguerite bei der Hand, führte sie zu einer Felserhöhung und wies sie an, sich auf den sonnenwarmen flachen Stein zu setzen.
Als er sich neben sie niederließ, hielt Marguerite ängstlich Ausschau nach Wachsoldaten. Orrick spürte ihre Besorgnis.
"Wovor habt Ihr Angst?" Er hob ihr das Kinn und zwang sie, ihm ins Gesicht zu schauen. "Ich spüre Eure Unruhe."
"Ich sehe keine Wachen." Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. "Ist es nicht gefährlich, hier allein zu sein?"
"Vor unserem Ausritt ließ ich den gesamten Küstenstreifen absuchen", antwortete er, und seine Augen blitzten belustigt, wie sie es schon häufig bemerkt hatte. "Meine Männer verbergen sich hinter einer Hügelkuppe im Süden und stehen auf dem Wehrgang der Burgmauer. Niemand könnte sich unbemerkt nähern."
"Können die Posten uns sehen?" Marguerites Blicke flogen weiterhin unstet umher. Mit ihm allein zu sein, weckte Bedenken in ihr, die sie hastig verdrängte.
"Die Männer zeigen sich nur auf mein Zeichen und halten sich ansonsten im Verborgenen. Ich versichere Euch, wir sind völlig ungestört."
Genau das hatte sie befürchtet. Mit großer Umsicht war es ihr in den letzten zwei Wochen gelungen, seine Nähe zu meiden. Sie nahmen zwar gemeinsam das Nachtmahl ein und begegneten einander gelegentlich tagsüber. Aber seit dem Abend auf den Burgzinnen war sie nicht mehr allein mit ihm gewesen. Marguerite sah aufs Meer hinaus.
Sie spürte, dass er sie begehrte. Er konnte seine Gelüste nicht verbergen. Schon auf dem Wehrgang hatte er den Drang verspürt, sie zu küssen, und jetzt wieder. Da kein Mensch in ihrer Nähe war, würde ihn auch niemand daran hindern. Das Schlimmste an der Situation aber war, dass Marguerite sich danach sehnte, von ihm umarmt zu werden.
Ehe sie ihrem Verlangen erliegen konnte, sich an ihn zu lehnen, rückte sie ein Stück von ihm ab und stellte verwundert fest, dass er sie gewähren ließ. Sie atmete tief durch und versuchte, ihr Herzklopfen zu beruhigen. "Warum habt Ihr mich hierher gebracht, Mylord?"
"Mylord? Ich dachte, Ihr beherzigt meine Bitte." Wieder trat dieses enervierende Funkeln in seine grünen Augen.
"Wir waren nicht allein, seit Ihr diesen Wunsch geäußert habt, Mylord …
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