Auf Bewährung
lassen.«
»Kingman!«
»Ich habe gesagt, ich werde Sie meine Entscheidung wissen lassen!«
Und Roy schlug die Tür hinter sich zu.
Kapitel 73
M ace hatte kaum geschlafen. Diesmal waren jedoch keine Albträume von Juanita und der messerschwingenden Rose daran schuld. Es war das immer wiederkehrende Bild ihres Vaters in seinem Sarg. Mace war gerade erst zwölf geworden. Beth war schon achtzehn gewesen und hatte sich darauf vorbereitet, mit einem Stipendium in Georgetown aufs College zu gehen. Aufgrund der schweren, tödlichen Verletzungen von Benjamin Perry war der Sarg am Tag der Beerdigung geschlossen gewesen.
Doch Mace hatte ihren Vater an jenem Tag noch einmal gesehen. Sie hatte sich davongeschlichen. Ihre Mutter war an jeder Schulter zusammengebrochen, die sie finden konnte, während Beth sich um alles gekümmert hatte, worum sich eigentlich ihre Mutter hätte kümmern sollen. Sie waren früh in die Kirche gekommen, als der Sarg noch nicht in die Kapelle gebracht worden war.
Mace war mit dem Sarg in einem kleinen Nebenraum allein gewesen. Sie erinnerte sich an jeden Geruch, jedes Geräusch und jeden Atemzug, den sie in den paar Minuten getan hatte, während sie die große Holzkiste mit den Metallgriffen angestarrt hatte, in der ihr Daddy lag. Bis zum heutigen Tag wusste sie nicht, warum sie das getan hatte, aber sie hatte all ihren Mut zusammengenommen, war zu dem Sarg gegangen, hatte den Atem angehalten und den Deckel geöffnet.
Doch kaum hatte sie ihn gesehen, da hatte sie sich auch schon gewünscht, irgendwer hätte sie davon abgehalten. Nur ein paar furchtbare Sekunden lang hatte sie die Leiche angestarrt.
Das Gesicht.
Oder das, was davon übrig geblieben war.
Dann hatte sie sich umgedreht und war rausgelaufen. Den Deckel hatte sie offengelassen. Das war nicht ihr Vater. So sah ihr Vater nicht aus.
Mace lief ins Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann schaute sie sich im Halbdunkel ihr Spiegelbild an. Sie war nie das Gefühl losgeworden, dass sie ihren Vater irgendwie im Stich gelassen hatte. Sie glaubte, hätte sie anders reagiert oder hätte sie etwas gesehen oder gehört, dann wäre ihr Vater noch am Leben. Hätte sie doch nur etwas getan! Irgendwas!
Es war meine Schuld. Ich war zwölf. Meine Schuld.
Nachdem Beth den Sargdeckel wieder geschlossen hatte, hatte sie Mace in einem Schrank gefunden, wo sie sich versteckt hatte. Auch Beth hatte ihren Vater tot gesehen, und keine der beiden Schwestern hatte je darüber geredet. Beth hatte Mace an jenem Tag scheinbar ewig in den Armen gehalten und sie sich ausweinen lassen, aber sie hatte ihr auch gesagt, dass alles wieder gut werden würde. Sie hatte gesagt, dass der Körper im Sarg einfach nur ein Körper ist, und dass ihr Dad schon längst an einem besseren Ort sei. Und er würde ewig über sie wachen. Das hatte sie versprochen. Und Mace hatte ihr geglaubt. Ihre Schwester würde sie nie anlügen.
Nur weil Beth an ihrer Seite gewesen war, hatte Mace den Trauergottesdienst überstehen können. Ihre Mutter hingegen hatte die ganze Zeit über nur geplappert, sogar als ein Soldat ihr die Nationalflagge in Anerkennung von Benjamin Perrys Verdiensten in Vietnam überreicht hatte. Als die Ehrengarde den Salut geschossen hatte, hatten alle sich die Ohren zugehalten – alle mit Ausnahme der beiden Perry-Schwestern. Mace erinnerte sich noch lebhaft daran, was sie in dem Augenblick gedacht hatte.
Ich will eine Waffe. Ich will eine Waffe, um den Mörder meines Daddys zu töten.
Und obwohl sie nicht gefragt hatte, war Mace fest davon überzeugt, dass Beth in jenem Moment das Gleiche gedacht hatte.
Ihre Mutter hatte die Patronenhülsen verweigert, die die Ehrengarde ihr angeboten hatte. Stattdessen hatte Beth sie genommen und Mace elf davon gegeben; die restlichen zehn hatte sie behalten. Mace wusste, dass Beth die Patronenhülsen noch heute in ihrer Schreibtischschublade aufbewahrte. Als Mace einmal ins Büro ihrer Schwester gekommen war, um einen Fall mit ihr zu besprechen, hatte sie gesehen, wie Beth die Schublade geöffnet, die Patronenhülsen herausgenommen und sie nachdenklich angeschaut hatte, als würde das Metall die Weisheit ihres Vaters kanalisieren.
Mace trank ein paar Schluck Wasser aus dem Hahn, kehrte in ihr Schlafzimmer zurück, öffnete den Rucksack und holte den kleinen Beutel heraus, der ihre elf Patronenhülsen enthielt. Beth hatte sie natürlich für sie aufbewahrt, als sie ins Gefängnis gekommen war. Mace
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