Auf Bewährung
Wagenfenstern, und alle fragten sie sich, was eine Frau wie sie nachts und allein in diesem Viertel machte. Das menschliche Ökosystem hier war zerbrechlich und ungewöhnlich widerstandsfähig zugleich; allerdings würden die meisten Bewohner der Stadt nie auch nur davon hören. Mace war jedoch schon immer fasziniert davon gewesen. Hier, das wusste sie, war die Grenze zwischen Cop und Gangster so schmal und dick zugleich, wie sie nur sein konnte. Kein Laie würde je verstehen, was sie damit meinte, jeder Cop jedoch sofort.
Mace hob den Blick. Es lag direkt geradeaus, mitten in Six-D wie ein Krebsgeschwür. Es war ein verlassenes Apartmenthaus, das wahrscheinlich mehr Drogen, Morde und Perversionen gesehen hatte als jedes andere Gebäude in der Stadt. Die Cops hatten es immer wieder gesäubert, doch die Gangster waren stets zurückgekommen. Es war wie ein Kakerlakennest, das man einfach nicht ausräuchern konnte. Auf dem Dach des Hauses hatte Mace ihren Beobachtungsposten gehabt, vor allem weil kein Gangster je vermutet hätte, dass ein Cop es infiltrieren könnte. Mace hatte einen Monat lang undercover arbeiten müssen, um sich in diese Welt vorzuarbeiten. Ständig hatte sie ihre Kamera und ihre Mikrofone unter ihrer weiten Kleidung versteckt, während sie Drogen verkauft und sich mit einer großen Klappe und ihrer Glock 37 gegen sexuelle Übergriffe gewehrt hatte. Das war eine der guten Seiten der Undercoverarbeit in dieser Gegend. Allerdings machte man sich hier schon verdächtig, wenn man keine Waffe bei sich trug.
Vom Dach aus hatte man eine wunderbare Aussicht auf den Drogenumschlagplatz von drei lateinamerikanischen Brüdern gehabt, die eine der gewalttätigsten Gangs von ganz D. C. geführt hatten. Mace war damals bei der Drogenfahndung gewesen, aber sie hatte nicht nur ein paar Drogenhändler hochnehmen wollen. Diese Jungs waren in mehr als einem Dutzend Morden die Hauptverdächtigen gewesen. Mace hatte Fotos gemacht, und andere ihres Teams hatten die Handys der drei in der Hoffnung angezapft, sie lebenslang hinter Gitter zu bringen.
Der Ort hatte sich nicht viel verändert. Das Haus war noch immer eine Müllhalde, größtenteils unbewohnt, aber nicht länger ein Zentrum des Verbrechens, denn Beth hatte im ersten Stock eine Polizeistation eingerichtet. Zwei der Latinos waren nach Houston gezogen – oder zumindest hatte Mace das im Knast als Gerücht gehört. Den dritten Bruder hatte man im Rock Creek Park gefunden, mehr Skelett als Leiche. Gerüchten zufolge hatten die beiden älteren Brüder ihn dabei erwischt, wie er Geld aus dem Kokshandel unterschlagen hatte, und offensichtlich hielten diese drei nicht viel von Bruderliebe. Mace war überzeugt, dass die drei damals irgendwie herausgefunden hatten, dass sie undercover war – entweder durch Glück oder einen Maulwurf im MPD –, und dann hatten sie sich an ihr gerächt.
Warum konntet ihr mir nicht einfach eine Kugel in den Schädel jagen? Das wäre schneller und weniger schmerzhaft gewesen.
Nun kam Mace der Gedanke, dass diese Kerle vermutlich auch noch mit dem durchkommen würden, was sie ihr angetan hatten. Wenn sie im Knast auf ihrer Pritsche gelegen hatte, hatte sie sich all diese ausgefeilten Pläne ausgedacht, wie sie jeder noch so unbedeutenden Spur folgen und jeden wachen Moment mit dem Fall zubringen würde, bis sie die Kerle hatte. Und dann würde sie mit ihren Gefangenen triumphierend aufs Revier marschieren, und die Welt würde wieder in Ordnung sein.
Mace hockte auf ihrer Ducati und schüttelte verwirrt den Kopf. Habe ich das wirklich geglaubt?
Dreißig Prozent der Polizeibeamten von D. C. hielten sie für schuldig. Das waren ungefähr zwölfhundert Cops. Dreißig klang deutlich besser als zwölfhundert. Mace wusste, dass sie das nicht kümmern sollte, dass das egal war, aber es kümmerte sie. Sie schaute zu der Gasse, aus der sie spät in der Nacht getreten war, nachdem sie stundenlang durch ein Teleobjektiv gestarrt hatte, und ihr Leben hatte sich für immer verändert. Der durchtränkte Lumpen auf ihrem Mund, dessen Dämpfe ihr Hirn geschmolzen hatten. Die starken Arme, die ihre Hände an die Seite gepresst hatten. Die quietschenden Reifen und die halsbrecherische Fahrt in die Hölle. Die Nadelstiche, das Schnupfen, die Flüssigkeit, die man ihr in den Hals geschüttet hatte. Das Würgen, das Schluchzen, das Stöhnen, das Fluchen. Aber vor allem das Schluchzen. Sie hatten sie gebrochen. Es hatte lange gedauert, aber sie hatten
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