Auf Couchtour
Beobachter sein? Das haben wir doch in der Realität öfter, als uns lieb ist.«
»Du hast recht.«
»Eben. Jede Szene ist genau durchdacht. Es ergibt alles einen Sinn. Zum Beispiel die Aktion mit dem Pudding, und dass wir uns daraufhin von unseren Plätzen entfernen.«
»Freie Bahn für den Mörder.«
»Jawoll. Wären wir einfach so auf die Toilette gegangen, hätte keiner bezeugen können, dass der patzige Rücken lebte, als wir uns auf den Weg machten. Durch seine Lach-Attacke konnte sich bestimmt jeder daran erinnern.«
»Wir hätten ihn doch später erwürgen können, nach unserer Rückkehr! Er hatte uns, beziehungsweise dich, vor jeder Menge Zeugen gedemütigt.«
»Auch dafür verschaffte uns jemand ein Alibi: die Frau aus dem Mittelgang. Erinnerst du dich? Sie hat uns die ganze Zeit über missmutig beäugt, weil jeder, der deinen Füßen auswich, sie, wenn auch ungewollt, bedrängte.«
»… und hätte mich der patzige Rücken nicht mit seiner Hand berührt, wäre ich nie auf die Idee gekommen, meine Beine auf deinen Schoß zu legen!«
»Voilà, du hast es erfasst. Ich bin stolz auf dich. Siehst du jetzt ein, warum das alles so sein musste?«
»Ja, schon. Aber warum ist überhaupt jemand gestorben – und dann noch so brutal?«
»Denk mal an unsere Liste der Hauptdarsteller: Officer Troy Archer, Officer Aaron Steel, Inspektor Brighton Stiller, … na, klingelt es?«
»Ah, verstehe!« Bei Charline klingelt es nicht nur, es scheppert.
»Scotland Yard würde kaum ausrücken, weil uns jemand das Wechselgeld falsch herausgegeben hat. Bei Mord, und der war offensichtlich, sah das anders aus.«
»Erzähl weiter.«
»Wo waren wir?«
»Der patzige Rücken ist tot.«
»Stimmt. Harold fasste sich ziemlich schnell wieder. Entweder wurde auf seinen Flügen ständig jemand erwürgt, oder er war einfach hartgesottener, als ich es ihm zugetraut hätte. Die Stewardess kreischte. Jetzt hielt es keinen mehr auf den Sitzen. Die Leute schnallten sich ab, sprangen auf und rammten unsere Sichtschutzmauer. Ein Tumult brach aus. Entgegen den Vorschriften schalteten viele ihre Handys ein und fotografierten die Leiche. Verrückte. Wollten die uns alle in den Tod knipsen? Ein Geschrei, ein Spektakel! Manche stiegen auf die Sitze, auf die Lehnen, um besser sehen zu können. Wir wurden abgedrängt, andere überrannt. Wer hinfiel, hatte verloren. Harold stand der Meute allein gegenüber. Sein fiepsiges Stimmchen, das zur Ruhe aufforderte, ging völlig unter. Die Stewardess kämpfte sich den Weg zum Cockpit frei. Durch die plötzliche Gewichtsverlagerung hätte es mich kaum gewundert, wenn das Flugzeug ins Trudeln geraten wäre. Jeder, der laufen konnte, kannte nur ein Ziel: unsere Reihe, rechts. Der Pilot schaltete sich über Lautsprecher ein. Er hatte möglicherweise lebenswichtige Informationen für alle Fluggäste, aber bis auf die Tatsache, dass er sehr erregt war, konnte niemand nur im Ansatz ausmachen, was er wollte. Das Problem mit seiner Verständlichkeit kannten wir ja bereits. Mal ehrlich, sein Appell schien allen egal zu sein. Der patzige Rücken wirkte wie ein Magnet auf die Passagiere. Keiner wollte sich aus seinem Bann befreien. Die Neugier nahm kein Ende. Auf einmal fiepte es. Ich dachte an meine Mikrowelle, Herrn Steiner und sein Hörgerät, aber der war ja zu Hause und nagelte bestimmt gerade die nächste Abmahnung an meine Wohnungstür. Es war das Mikrofon.
Der Überlebenswille der Stewardess trieb sie dazu, sich über ihre Kompetenzen hinwegzusetzen. Sie hatte noch einen gut bei mir, weil sie vorhin so viel einstecken musste. Also durfte sie unsere Retterin spielen. Sie riss das Mikrofon an sich und schrie: ›Alle auf ihre Plätze, sofort, sonst stürzen wir ab!‹ Sie hat derart gebrüllt, dass wir hörten, wie ihr Zäpfchen aufs Mikrofon schlug und wieder zurück in ihren Rachen schnellte. Na ja, wir dachten zumindest, dass es so war. In Wahrheit hatte sie dem Piloten mit dem Mikrofon auf die Finger gekloppt, weil er es sich zurückholen wollte. Das Geräusch ließ viele Fragen offen. Wichtig war: Die Leute reagierten. Erst geschockt, dann fügsam. Wie ein Haufen Ameisen strömten sie aus, um ihre Plätze einzunehmen. Es wurde still, beängstigend still. Wir halfen einer Frau vom Boden auf – der aus dem Mittelgang nebenan übrigens. Sie richtete ihre Frisur und bemerkte mit schmerzverzerrtem Gesicht, dass mit ihrem Fuß etwas nicht stimme. Ich hakte sie unter und begleitete sie zu ihrem Sitz. Ich
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