Auf Couchtour
davor, deine Füße zu streifen, und wichen mit der Hüfte in Richtung Mittelreihe aus, was wiederum die außen sitzende Frau nebenan fuchsig machte. Sie faselte etwas von wegen ›unverschämt‹ und ›unerhört‹ vor sich hin. Wir ignorierten sie. Sie hatte nicht den Mumm, uns anzusprechen. Pech für sie. Wer nichts sagt, der nichts gewinnt. Oder so ähnlich. Wir lauschten der Musik aus unseren Kopfhörern und entspannten uns auf die letzten Kilometer. Mein Pullover war fast trocken. Das Braun integrierte sich nahezu perfekt in den grünen Untergrund. Der dominanteste Fleck, der in Brusthöhe, sah aus wie eine fette Made, der darunter am Bauch wie ein Vogel, welcher danach schnappte. Drumherum Blutspritzer. Bluten Maden braun? Die Proportionen stimmten nicht ganz. Der Vogel war etwa halb so groß wie seine anvisierte Mahlzeit. Wie dem auch sei, alles in allem ergab es ein spannendes Motiv.
Im Reiseführer steht, der Flug nach London dauere etwa zweieinhalb Stunden. Wir waren kurz nach sechs abgehoben. Ankunftszeit mit eingerechneter Verspätung also um spätestens neun Uhr in Heathrow. Ich habe gelesen, dass London um halb zehn lebendig wird. Es ist die Zeit, in der die Geschäfte öffnen und die Menschen zuhauf aus den U-Bahn -Schächten quellen. Wir wären also gleich mittendrin im Getümmel. Klasse.
Mausetot
Um 8.30 Uhr wurden wir per Lautsprecher gebeten, unsere Gurte anzulegen, weil wir in Kürze landen würden. Nur gut, dass die Stewardess per Hand übersetzte, sonst hätte keiner kapiert, was Kapitän Nuschel uns mitteilen wollte. Wir gehorchten brav. Um uns herum klickte und klackerte es. Alle schnallten sich an – außer der patzige Rücken. Der lag noch immer regungslos in seinem Sitz und ließ den Arm baumeln. Die Stewardess trat zum Kontrollgang an. Die Ärmste. Wir ahnten, was ihr bevorstand, wenn sie zu unserer Reihe kam. Du hast sie sehnlichst erwartet, da du dich zum Festgurten gerade hinsetzen musstest und seine Hand wieder deine Wade tätschelte. Endlich war sie da. Sie fragte uns, ob alles okay sei. Wir nickten. Ich glaube, sie wollte nur Zeit schinden und überlegte, wie sie den Kotzbrocken dazu bringen würde, ihren Anweisungen zu folgen. Sie sprach ihn an. Mutige Frau. ›Sir, legen Sie bitte Ihren Gurt an.‹ Er reagierte nicht. Sie wiederholte es, jedes Mal ein bisschen lauter. Bei ihrem letzten ›Sir‹, beugte sie sich über uns und tippte ihn an. Das Aas zuckte nicht mal. Sie packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn. Wir dachten beide das Gleiche: Wenn er jetzt aufwacht, frisst er sie roh. Doch er rührte sich kein Stück. Er war wohl satt. Die Stewardess holte Verstärkung – einen Mann, wenn man seinem Namensschild glauben schenken konnte: Harold, Chefsteward. Der Typ hatte so wenig von einem Mann, wie ich von einer Ballerina. Er trug Hosen, das war aber auch alles, was ihn von seinen Kolleginnen im Rock unterschied. Was wollte das schmale Hemd gegen den Satan ausrichten? Ich sah ihn schon vor mir am Boden liegen. Niedergeschrien. Er bat uns aufzustehen. Wir schnallten uns ab und taten ihm und uns den Gefallen. Soweit es die Gurte zuließen, versuchte jeder der Umsitzenden, einen Blick auf die Situation zu erhaschen. Wir stellten uns demonstrativ davor und versperrten den Neugierigen die Sicht. Es stimmt wirklich, dass man Blicke spüren kann. Wir fühlten etliche in unseren Nacken, wie Nadelstiche, die uns wegpieken wollten. Wir blieben stur. Harold fasste sich ein Herz und drehte den patzigen Rücken um. Er schreckte zurück. Wir starrten auf eine Fratze mit weit aufgerissenen Augen und heraushängender Zunge.«
»Harold?«
»Nein, der patzige Rücken!«
»Wieso, was war mit ihm?«
»Na ja, um seinen Hals lag eine Schlinge aus Draht. Kombiniere, Watson, er wurde erwürgt.«
»Ermordet? Ich habe neben einer Leiche gesessen und wurde von ihr betatscht?«
»Ja, so ist es. Er hat dich ja nicht wirklich betatscht, nur gestreift.«
»Na, dann verliert das Ganze ja komplett seinen Schrecken! Bist du irre? Ich wollte eine Romanze, und du lässt mich von einem Toten angrabschen, von einem abartigen dazu?«
»Charline, stell dich nicht so an. Wir sind noch lange nicht am Ende. Hättest du lieber die Flecken gehabt?«
»Nein.«
»Na also. Wir sind nun mal die Hauptdarsteller. Ein gutes Drehbuch beinhaltet immer schöne und schlechte Erfahrungen. Sonst ist es langweilig. Die Akteure müssen da durch. Willst du etwa die anderen alles Aufregende erleben lassen und selber nur
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