Auf Couchtour
von den Officern in eine Ecke verfrachtet worden und wartete nun sehnsüchtig auf die Rückkehr seines Frauchens. Absurd. Dieses Zimmer war ungeeigneter für eine ernst zu nehmende Befragung als eine Pommesbude. Aber so sah es nun mal aus. Meine Mutter sagt immer: ›Wichtig ist, was drinsteckt.‹ Selbst die hässlichste Hülle kann einen hübschen Kern beherbergen – oder umgekehrt, je nachdem.
In diesem Fall war der Inhalt keine allzu große Überraschung. Ich hatte es mir ja so ausgedacht. Bis auf …«
»Bis auf was?«, will Charline wissen.
»Na ja, das mit dem Tick!«
»Was für ein Tick?«
»Du weißt, ich bevorzuge Männer, die eine kleine Macke haben, also nicht perfekt sind. Wenn schon ein Adonis, dann einer mit Holzbein, verstehst du?«
»Klar, ich kenne deinen Geschmack, aber begriffen habe ich ihn nie. Du und deine Minderwertigkeitskomplexe. Du bist eine tolle Frau. Alles an dir ist liebenswert. Warum spielst du dich ständig herunter?«
»Damit du mich vom Gegenteil überzeugst!«
»Ach, Rita!«
»Nein, mal ehrlich. Die Erfahrung mit Jürgen hat mich gelehrt, dass ich einem äußerlich makellosen Partner nicht gewachsen bin. Er war die Ausnahme, er war oberflächlich perfekt, und was ist draus geworden? Eine Katastrophe. Ich fühle mich Männern mit Fehlern ebenbürtiger. Wenn ich mit Jürgen auf eine Party ging, fragte sich jede Frau im Raum: ›Wie hat die denn den gekriegt?‹ Ich konnte mich an seiner Seite nie entspannen. Du kannst das nicht nachvollziehen, weil es bei dir und Bernd genau umgekehrt ist: ›Wie hat der denn die gekriegt?‹ Glaub mir einfach, so, wie du mich siehst, sieht mich kein anderer Mensch.«
»Rita …«
»Genau die bin ich. Mit Fleischfüßen, Speckbauch, Sehschwäche, Ganzkörper-Cellulite und wabernden Oberschenkeln, die bei jedem meiner Schritte Beifall klatschen.«
»Hast du nicht gerade über innere Werte geschlaumeiert?«
»Schon, aber ich trage nun mal kein Schild um den Hals, auf dem steht, dass ich liebenswert bin. Um jemanden zum Auspacken zu animieren, muss man ihn mit einer attraktiven Verpackung ködern. Außerdem stammt der Spruch von meiner Mutter, und die hat ihn sinngemäß von Goethe adaptiert, Dr. Faust, des Pudels Kern und so.«
»Das ist ein abendfüllendes Thema.«
»Stimmt. Lass es uns bitte auf einen anderen Abend verlegen. Es macht mich betrübt.«
»Okay. Aber ich sage ausnahmsweise die vorerst abschließenden Worte dazu: Für mich bist du wunderschön!« Dafür hat sich Charline einen dicken Kuss verdient, den ich ihr sofort aufdrücke. Sie ist die beste Freundin, die man sich wünschen kann.
»Also, zurück zum Tick. Es ist meine Schuld. Ich habe die Macke vorm Einschlafen nicht genau definiert. Alles, was ich vorher diffus bestimme, wird autonom im Detail entschieden, wenn ich träume. Ich habe keinen Einfluss mehr darauf. Orlando Bloom ist, was sein Aussehen angeht, ein absolutes Musterexemplar. Der konnte definitiv so nicht bleiben. Als ich ihm, Officer Troy Archer, im Büro gegenübertrat, war ich zuerst etwas irritiert, aber nur einen Moment. Ich fing mich sofort wieder. Er reichte mir die Hand, stellte sich vor und wischte sich gleich darauf ebendiese Hand an seiner Hose ab. Während er sprach, kontrahierte die Muskulatur seiner rechten Gesichtshälfte. Er zerrte krampfartig einen Mundwinkel nach oben und drückte dabei ein Auge zu. Danach zuckte er mit den Schultern und begann alles, was auf dem Schreibtisch lag, nach Norden auszurichten. Okay, dachte ich, jetzt bloß nicht nervös werden. Für Menschen mit Ticks ist die Unsicherheit ihres Gegenübers ansteckend und verschlimmert ihren Zustand in der Regel. Ich weiß das, weil einer meiner Patienten, Ulli Bänder, unter solchen Zwangsstörungen leidet. Er hüpft herum, grunzt, bevor er lacht, und malt jedes Wort mit den Händen nach. Er hätte mich fast schon mal k. o. geschlagen, als er mir von einem großen Familienfest erzählte. Ich mag ihn. Er ist wie der Schaum auf einem Bier – so erfrischend. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie seine psychische Diagnose lautet. Es wäre mir auch unangenehm, ihn darauf anzusprechen. Er redet nicht darüber, und ich versuche, seine Ticks zu ignorieren. Für seine ambulante Therapie bei uns ist das ohnehin unerheblich. Er bekommt drei Mal in der Woche Reizstrom, wegen einer Sehnenscheidenentzündung. Fakt ist: Ulli hat eine äußerst nachhaltige Wirkung auf mich. Wahrscheinlich dümpelte die Erinnerung an ihn noch in meinem
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