Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
bekannten chemischen Elemente entdeckt zu haben. Diese großen Erfolge wurden erreicht, indem man in einem Beschleuniger mit Kernteilchen auf schwere Atomkerne schoss. Dabei entstanden durch Verschmelzung die besagten neuen Kerne, und man konnte sogar auf die Entdeckung ganz neuer Elementarteilchen hoffen. Genau das schien sich 1983 anzubahnen: Hinweise darauf gaben kurzzeitig entstandene Positronen, Antiteilchen des Elektrons mit umgekehrter Ladung, [9] die man mit sogenannten Positronenlinien nachzuweisen hoffte, auf die nun alle Anstrengungen konzentriert wurden. Mit Erfolg. Man fand die Linien mit einer Signifikanz, die über 99,9999 Prozent Wahrscheinlichkeit entsprach, sodass das Phänomen praktisch kein Zufall mehr sein konnte. Die Theoretiker waren elektrisiert. Der Nachweis der Positronenlinien wäre sensationell und ein Kandidat für den Nobelpreis gewesen, von dem der Forschungsgruppenleiter, Autor eines ganzen Regalmeters von Lehrbüchern, bald träumte. Nach wie vor zeigte sich das Experiment jedoch kapriziös. In manchen Zusammenstößen waren die rätselhaften Signale einfach nicht zu sehen, was man auf ein ‚schlechtes Target‘ zurückführte, also auf einen unter Beschuss genommenen Atomkern, der irgendwie nicht so wollte. Solche Erklärungen häuften sich. Ein neuer Direktor gab der Gruppe schließlich ein halbes Jahr Zeit, um die Sache endgültig zu klären. Aber mit einem verbesserten Versuchsaufbau sah man plötzlich gar nichts mehr. Die Seifenblase war geplatzt, zehn Jahre Forschungsarbeit waren in den Sand gesetzt. Berufsrisiko der Wissenschaft, könnte man sagen, aber wie konnte es zu so einer groben Fehlinterpretation der früheren Daten kommen? Durch Blickverengung. Die ersten Hinweise machten die Forscher so euphorisch, dass sie in immer kleineren Teilmengen der Daten suchten. Diese waren als interessant ausgewählt worden, eben weil man dort das neue Phänomen sah, das entweder aus einem unbekannten Hintergrund – also einem Störeffekt – bestand oder aus rein zufälligen Fluktuationen, wie ein Bericht der Gesellschaft 1999 zerknirscht bemerkt. 16 Durch Herausfiltern der hier vermeintlich interessanten Daten, eine verbreitete Technik, die Triggern genannt wird, habe sich der Effekt selbst verstärkt. Sorry.
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Ehrgeiz ist der Tod des Denkens. – Ludwig Wittgenstein
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SECHSTER SINN MESSGERÄT
Unbedachte extensive Filterung und zu zielgerichteter Ehrgeiz sind die Zutaten dieser peinlichen Geschichte, und doch sollte niemand über die Beteiligten allzu sehr die Nase rümpfen, denn die Problematik ist grundlegend. In komplexen Experimenten tauchen unvermeidlich Artefakte auf, also Fehler, die als ein Signal interpretiert werden können. Sie wirken sich verheerend aus, wenn sie einer theoretischen Wunschvorstellung entsprechen. Die Auswahl der Methoden mit Blick auf das gewünschte Ergebnis ist ja manchmal durchaus sinnvoll, aber es besteht die Gefahr, dass Theoretiker und Experimentatoren sich in ihren Erwartungen wechselseitig verstärken. Die Entdeckung ist vorteilhaft für beide. Auch sorgfältig arbeitende Wissenschaftler unterschätzen diesen Mechanismus.
Dazu kommt, dass immer raffiniertere Apparate unsere direkten Wahrnehmungen ersetzen. Wie sehr wir diesen erweiterten Sinnesorganen aber trauen können – diese Frage stellt man kaum, obwohl sie bereits antike Philosophen aufgeworfen haben, woran Erwin Schrödinger in seinem wunderbaren Büchlein Die Natur und die Griechen erinnert. Gerade in Zeiten des Large Hadron Collider am CERN ist diese Frage aber hochaktuell. Dabei geht es keineswegs um banale Reflexionen darüber, ob die Welt ‚real‘ ist oder uns nur ‚scheint‘, die jeden Physikstudenten langweilen.
(3) Erwin Schrödinger mit seiner Tochter
Aber bei der Komplexität der heutigen Experimente muss man darüber nachdenken, was wir gesicherten Sinneseindrücken gleichsetzen, wenn wir sagen, ein Teilchen wurde „gesehen“. Die Angabe der Signifikanz mit hohen Wahrscheinlichkeiten klingt oft beeindruckend, täuscht aber darüber hinweg, wie viele systematische Fehler sich in der Datenauswahl, in der Eichung der Messgeräte, in der Auswerteelektronik oder in den Simulationen zum Herausrechnen von unerwünschten Hintergrundsignalen verbergen können – ein erhebliches Restrisiko. Erst wenn alle diese Helfer unserer Sinne richtig zusammenarbeiten, sollten wir den Verstand zur Theoriebildung nutzen – theoretisch. Nicht selten läuft er etwas voraus.
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