Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
ist ein Kapitalfehler, eine Theorie zu entwickeln, bevor man Daten hat. Unmerklich verbiegt man dann nämlich die Daten, damit die Theorie stimmt. – Arthur Conan Doyle, britischer Schriftsteller
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FILTERN AUF FEHLER KOMM RAUS
Die Eichung von Messgeräten, genannt Kalibrierung, ist in fast allen modernen Großexperimenten von immenser Bedeutung. Man muss natürlich wissen, wie sich ein Gerät ohne das zu messende Signal benimmt, bevor man dieses herauslesen will. So müssen etwa Detektoren in den abgeschirmten unterirdischen Laboratorien, die zurzeit intensiv nach Dunkler Materie suchen, besonders sorgfältig kalibriert werden. Jeder Detektor ist einer unvermeidlichen Kontamination ausgesetzt, beispielsweise durch Neutronen, die durch die kosmische Höhenstrahlung freigesetzt werden. Wenn dieses Rauschen stärker als das Signal wird, kann man eigentlich nicht mehr messen. Um trotzdem etwas herauszuholen, versucht man die störenden Ereignisse zu simulieren. Kennt man die Störer gut, ist das unproblematisch. Im Falle der Neutronen wird dies, wie wir noch sehen werden, 17 jedoch abenteuerlich oberflächlich gemacht. Interessanterweise ignoriert dabei die Fachgemeinde der Detektorexperimente, was die Kernphysik über die Reaktionen langsamer Neutronen herausgefunden hat. Aber auch anderswo werden Erkenntnisse eines fremden Gebietes oft nur als lästig empfunden. Dabei spielt immer der gleiche Gesichtspunkt eine Rolle: Ersehnte Entdeckungen wie die Dunkle Materie sind einfach spannender als Fehlersuche. Das Prüfen, Suchen und Testen bei der Auswertung, das Erwägen eines Irrtums stellt implizit die eigene Kompetenz in Frage und ist ein frustrierendes Geschäft, die Erwartung des Durchbruchs dagegen, die Vorstellung, der Erste zu sein, höchst erregend. Niemand kann behaupten, dass Menschen in ihrer Urteilsfähigkeit davon unbeeinflusst bleiben.
Das Experiment mit seinen trockenen technischen Einzelheiten ist viel weniger glamourös als das Nachdenken über das Design der Schöpfung, dem sich die Theoretiker hingeben dürfen. So ist die Kosmologie getragen von der Euphorie über die Vermessung des kosmischen Mikrowellenhintergrundes, der einen Blick auf eine Epoche kurz nach dem Urknall erlaubt. Das öffentliche Interesse an der Funktionsweise des Instruments, das sein Signal auf ziemlich indirekte Weise erhält, ist aber gleich null. Ein gemeinsames Problem von Astro- und Teilchenphysik ist das immer exzessivere Herausfiltern von unerwünschten Signalen. Die verbleibenden Beobachtungen werden damit unvermeidlich anfälliger für systematische Fehler – so, wie hochgezüchtete Hühner sich unter dem eigenen Gewicht die Knochen brechen. Die Gefahr, dass misslungene Filterungen Realität vorspiegeln, dass das Unerwünschte zum Erwünschten wird, wird immer größer.
GROSSALARM FÜR DATENSCHLUCKAUF
Zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und Illusion liegt oft ein schmaler Grat. Dies offenbart eine Geschichte, die die Teilchenphysik immerhin acht Jahre in Atem hielt. 18 1985 entdeckte ein britischer Forscher Hinweise auf ein neuartiges Elementarteilchen, ein Neutrino mit einer überraschend großen Ruheenergie [10] von 17 Kiloelektronenvolt (keV). Die Daten waren zwar nie ganz unumstritten, jedoch gab es immerhin sechs unabhängige Experimente, die auf die Existenz hindeuteten, und wie üblich eine unüberschaubare Zahl von Theorien, die genau dieses Teilchen erwartet hatten.
Auch hier zeigt sich der soziologische Effekt zu Gunsten des bestätigenden Experiments – es tut niemandem weh. Ähnlich wie bei den Positronenlinien in der Schwerionenforschung stellte sich alles als ein Artefakt heraus, bei dem man sich mit der Auswahl des ‚richtigen‘ Teils der Daten selbst ein Bein gestellt hatte. Vor dieser Versuchung waren übrigens auch die Großen der Vergangenheit nicht gefeit: Robert Andrews Millikan, Nobelpreisträger von 1923, der die Elementarladung als Erster, wenn auch fehlerhaft und unter Auslassung von ‚schlechten‘ Werten, gemessen hatte, wurde schließlich durch nachfolgende Experimente korrigiert. Interessanterweise entfernten sich diese jeweils in kleinen Schritten von Millikans Wert, womit der Übergang zur Wahrheit wesentlich sanfter erfolgen konnte. Begebenheiten wie das 17-keV-Neutrino werden manchmal als Erfolgsgeschichten der wissenschaftlichen Methode hingestellt, weil die Sache gut ausging und der Fehler gefunden wurde. In Wirklichkeit offenbaren sie aber bedenkliche Mängel in der Genese von
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