Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
die mit der Inbetriebnahme des Large Hadron Collider am CERN einherging. Die Forscher am Fermilab hatten eine unerwartete Abweichung in ihren Daten entdeckt. Wie Paparazzi hatten sich einige Theoretiker die Kurvenpunkte aus einer unautorisierten Diplomarbeit geholt, sodass schon zwanzig Minuten (!) nach der offiziellen Datenveröffentlichung eine theoretische Erklärung „Technicolor am Tevatron“ die Welt beglückte. 22 Beteiligt war übrigens auch ein Kosmologe und Fan der Dunklen Materie. Nach ein paar Tagen war der Spuk dann vorbei. Hat der Ruf des ‚Technicolor‘-Modells darunter gelitten? Natürlich nicht. Theoretiker sind immun gegen Blamagen.
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Ich habe nichts dagegen, wenn Sie langsam denken, aber ich habe etwas dagegen, wenn Sie rascher publizieren als denken. – Wolfgang Pauli, Nobelpreisträger 1945
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Jedem, der sich hier etwas am Kopf kratzt, müssen doch zwei Dinge auffallen: Wie die Politik produziert der Wissenschaftsbetrieb keine langfristigen, geschweige denn durchdachten Visionen, sondern betreibt ein Krisenmanagement des Augenblicks, weil man sich unbequeme Fragen nicht stellen will. Zudem wird man den Eindruck nicht los, dass es kein Resultat der Hochenergiephysik gibt, das nicht mit einer passenden Erweiterung der Modelle in Einklang zu bringen wäre, also letztlich beliebig interpretierbar ist. Für jeden denkbaren Datensalat steht ein theoretisches Dressing bereit, um uns das Neue schmackhaft zu machen, ohne dass noch jemand fragt, woher die Dickleibigkeit des Standardmodells kommt. Mit Überprüfbarkeit, nach Karl Popper das entscheidende Merkmal von Wissenschaft, hat das allerdings nicht mehr viel zu tun. Und einige fundamentale Probleme hat man dabei ohnehin längst aus den Augen verloren.
UNGESUNDE SYMBIOSE
Vielleicht hat Popper mit seiner Wissenschaftstheorie sogar wider Willen dazu beigetragen, dem Experiment den Nimbus der kontrollierbaren Frage an die Natur zu verleihen. Er kannte die Hochenergiephysik allerdings noch nicht mit ihrer ganz speziellen Arbeitsteilung: Die Experimentatoren sind für das Entdecken, die Theoretiker für das Erklären zuständig – eine Situation, die bei fachlicher Nähe unweigerlich zu einer Schieflage führt, denn beide bevorzugen diejenige Lesart der Ergebnisse, die dem einen als Arbeitsgebiet, dem anderen als Rechtfertigung dient.
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… wie experimentelle Forschungen von einer theoriebesessenen Geschichtsschreibung in Untersuchungen einer Theorie verwandelt werden, von der die experimentellen Forscher gar keine Vorstellung hatten. 23 – Ian Hacking, Wissenschaftshistoriker
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Im Zweifel für das Neue, eine Art kognitiver Placeboeffekt, der auch deshalb so gut wirkt, weil das nötige Expertenwissen im jeweils anderen Gebiet fehlt. Auch Theoretiker und Experimentatoren müssen einander vertrauen. Eine Revision der neuen Entdeckung wäre hingegen für beide peinlich, und dies verdammt Theoretiker und Experimentatoren zur Symbiose. Das hat nichts mit Unredlichkeit zu tun, sondern spielt sich, vielleicht noch mächtiger, im Unbewussten ab. Das Ganze ist einem Kartenspiel vergleichbar, in dessen Verlauf permanent die Regeln angepasst werden. Der Erfolg ist dann nicht verwunderlich, aber das Experiment als Abbild der Realität wird hierbei zur Karikatur.
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Die Experimentatoren können heute keine Zahlenreihe mehr aufaddieren, und die Theoretiker schaffen es nicht, sich die Schnürsenkel zu binden. – Isaac Rabi, Nobelpreisträger 1944
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Insbesondere sind auch die Berühmtheiten fehlbar, die darüber befinden, was Realität ist. So zeigte Carlo Rubbia, damals Leiter eines Experiments am CERN, im November 1982 seine neuesten Bilder von Teilchenkollisionen den Nobelpreisträgern Weinberg, Glashow und Salam, die darin einhellig das neue (und von ihnen erwünschte) Teilchen W-Boson erkannten. Später stellte sich dieses konkrete Ereignis als Artefakt heraus. 24 Auch Physiker urteilen manchmal nicht verlässlicher als Kunsthistoriker, die einen Rembrandt am Pinselstrich zu erkennen glauben.
Bei allen Beobachtungen der Hochenergiephysik, aber auch zunehmend in anderen Gebieten, ist die relevante Information nur noch ein winziger Bruchteil der produzierten Rohdaten, der mit immensem Aufwand herausgefiltert wird. So war man etwa bei der Suche nach dem Higgs-Teilchen am CERN darauf angewiesen, ein störendes Hintergrundrauschen zu entfernen, das billionenfach stärker als die erwünschten Signale ist – so als ob man beim Abbau von
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