Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
Wissen, denn alle modernen Großexperimente sind ungleich schwieriger zu überprüfen als diese relativ einfache Posse. Und klüger ist man eben immer erst hinterher. Sogar die angeblich überlichtschnellen Teilchen der OPERA-Kollaboration im Gran Sasso hielten die wissenschaftliche Welt monatelang in Atem – beflissene Theoretiker hatten schon Einsteins Relativitätstheorie ad acta gelegt. Als dann ein vergleichsweise banales technisches Versehen als Ursache erkannt wurde, trat der Sprecher des Experiments zurück. Warum eigentlich?
DAS EXPERIMENT: MEHR ADVOKAT ALS RICHTER
Interessant ist hier schon, auf welche Weise sich Physiker irren dürfen: Systematische Fehler eines Experiments, auch durch einen unbekannten Effekt, ruinieren den wissenschaftlichen Ruf sofort. Sie gelten als ehrenrührig, selbst wenn sie bei aller Sorgfalt unvermeidlich gewesen wären.
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Wir hatten die Freiheit, Fehler zu machen. Das ist etwas sehr Wichtiges. – Heinrich Rohrer, Mitentdecker des Rastertunnelmikroskops
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Umgekehrt wird niemand wegen eines erfolglosen theoretischen Vorschlags schräg angeschaut, auch wenn dieser auf noch so hanebüchenen Annahmen beruht – das bleibt ein Kavaliersdelikt. Dem liegt ein Denkfehler zu Grunde, den Wissenschaftstheoretiker als naiven Realismus bezeichnen. Das Experiment wird stilisiert als gerechter Richter, der über Theorien das Urteil ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ fällt. Aber in jedem komplexeren Versuchsaufbau sind technische Details mit den verschiedensten theoretischen Annahmen so verwoben, dass die Resultate einer umfangreichen Interpretation bedürfen, die keineswegs immer eindeutig gelingt – sagt zum Beispiel der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking. 19 Je länger die Kette der indirekten Schlüsse, desto mehr subtile Fehler können sich einschleichen. Das Ergebnis ist leider nicht automatisch Realität, auch wenn wir es uns als Wissenschaftler wünschen.
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Das Wissen gründet sich am Schluß auf der Anerkennung. – Ludwig Wittgenstein
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Wenn Sie sich ernsthaft mit den Erkenntnissen der modernen Physik auseinandersetzen wollen, müssen Sie diese historischen, methodischen und soziologischen Bedingungen zur Kenntnis nehmen, unter denen das vermeintlich pure Faktenwissen zustande kommt. Für mich war dabei das Buch Constructing Quarks von Andrew Pickering besonders aufschlussreich, weil es diese wichtigen methodischen Fragen mit physikalischem Sachverstand behandelt. Pickering war als promovierter Hochenergiephysiker jahrelang an großen Beschleunigern tätig, bevor er auf die Probleme aufmerksam wurde, mit denen er sich heute als Wissenschaftssoziologe beschäftigt. Ein typisches Dilemma der modernen Physik beschreibt er so: 20
„Nehmen wir ein Phänomen an, dessen Existenz nach Meinung der Fachleute als gut gesichert gilt. Eine Gruppe von Experimentatoren findet es jedoch nicht. Plötzlich sind sie mit der Möglichkeit eines systematischen Fehlers konfrontiert. Man reproduziert den Versuch, aber keine noch so sorgfältige Detailanalyse hilft weiter. Nun betritt ein Theoretiker die Szene. Er findet die Ergebnisse keineswegs unerwartet, vielmehr stellen sie ein zentrales Element seiner neuen Theorie dar.“
Man versetze sich für einen Moment in diese Lage. Jeder wird hier Erleichterung verspüren. Und hierbei handelt es sich um eine Situation, die in der Wissenschaft erstaunlich oft vorkam. Pickering analysiert:
„Dies schafft neue Optionen: Die Experimentatoren können die Ergebnisse als Manifestation der neuen Theorie interpretieren, anstatt als unerfreulichen systematischen Fehler, und weitere Experimente in dieser Richtung unternehmen. Die Theoretiker können an dem Ansatz weiter arbeiten, umso mehr, als es jetzt experimentelle Hinweise auf die Gültigkeit gibt.“
Weil Pickering [11] viele solcher wunden Punkte fand, wurde sein Buch von der Gemeinde der Teilchenphysiker nicht gerade begeistert aufgenommen. Bezeichnend für die Überheblichkeit ist ein Kommentar in einer Rezension: 21 „Inhaltlich sehr fundiert, beweist es doch die totale Nutzlosigkeit soziologischer Argumente für die Physik.“ Manche stecken den Kopf gern tief in den Sand.
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Ein Buch ist ein Spiegel, aus dem kein Apostel herausgucken kann, wenn ein Affe hineinguckt. – Georg Christoph Lichtenberg
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DATENHYPOCHONDRIE
In einem bizarren Zeitraffer sah man die beschriebene Szene zum Beispiel in der aufgeheizten Atmosphäre vor der Schließung des Tevatron am Fermilab in Chicago,
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