Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
auch deswegen nicht mehr einfach aus, weil sie aus Erkenntnissen zusammengewürfelt wurde, die in getrennten Gemeinden der Physik gewonnen wurden? Neutrino- und Hochenergiephysiker, Experten zur Galaxiendynamik und Gravitationsphysiker können heute nicht mehr auf der Ebene echten Verständnisses kommunizieren. Kaum jemand kann Rohdaten außerhalb seines Fachgebietes interpretieren, niemand kann die Kette der detaillierten Schlussfolgerungen des jeweils anderen wirklich nachvollziehen oder gar nachprüfen. Sie müssen einander glauben.
Es wäre leichtfertig, wenn die Physiker den kritischen Blick der Soziologie auf ihr Fach nicht zur Kenntnis nehmen. Was Andrew Pickering in seinem Buch Constructing Quarks oder Harry Collins in seinem Werk Gravity’s Shadow dargestellt haben, sind Fakten, die die Physik betreffen: Wie Forscher kommunizieren, auf was sie vertrauen, welche Rolle Wettbewerb, Autorität und Gruppendynamik spielen – das wirkt sich nachweislich darauf aus, was sich als wissenschaftliche Wahrheit durchsetzt.
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In den frühen Tagen der Wissenschaft wurde aus dem Kampf gegen die Autoritäten unsere Freiheit zu zweifeln geboren. – Richard Feynman, Nobelpreisträger 1965
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Insbesondere können wir fundamentale Physik nicht wirklich verstehen, ohne einen gründlichen Blick auf ihre Geschichte zu werfen. Derek de Solla Price beschreibt in seinem Buch über Big Science , wie er sämtliche Bände der Zeitschrift Philosophical Transactions of the Royal Society of London von 1662 – 1930 Zeile für Zeile las 29 – alle wesentlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse waren darin enthalten. Man stelle sich das heute vor! Ein Ding der Unmöglichkeit, dabei wäre ein Überblick so notwendig. Es ist kein Zufall, dass Einstein in der Elektrodynamik, der Quantenmechanik, der Thermodynamik und natürlich in den von ihm entwickelten Relativitätstheorien sowie in der Kosmologie zu Hause war, also in allen fundamentalen Gebieten der Physik, und zugleich die wesentlichen experimentellen Ergebnisse der Zeit kannte. „Man bräuchte eben einen neuen Einstein!“, seufzen Physiker zuweilen, aber die Aussage ist nicht durchdacht. Bei sieben Milliarden Menschen und den heutigen Bildungsmöglichkeiten sollte sich eigentlich jemand finden lassen, der Einstein das Wasser reichen könnte. Aber ein Einstein kann heute nicht mehr existieren, weil es unmöglich geworden ist, die fundamentale Physik zu überblicken. Die Frage lautet wieder: Sind die Menschen wesentlich dümmer geworden, oder hat die Menschheit die fundamentale Physik in einen Zustand befördert, der in seiner Unübersichtlichkeit nicht mehr zu retten ist? Denn Schwarmintelligenz gibt es doch hauptsächlich in Romanen von Frank Schätzing.
GROSSE TIERE MIT LANGEN LEITUNGEN – WACHSTUM IST NICHT ALLES
Einsteins Leben spiegelte auch die weltpolitischen Verwerfungen wider, die die Physik veränderten. 30 Als die Nazi-Ideologie die wissenschaftlichen Zentren vergiftete, wurden Einsteins Leistungen von den Vertretern einer ‚Deutschen Physik‘ diffamiert, schließlich symbolisierte seine Emigration 1933 das Ende der philosophisch verwurzelten Physiktradition Europas. Und kaum ein Ereignis hat die Physik so beeinflusst wie die Atombombenabwürfe im August 1945. Die Wissenschaft war neben die Politik gerückt, ja mächtig geworden. [12] Die Apparate und Beschleuniger, die die Kräfte des Atomkerns entfesselt und jene auf dem Globus verschoben hatten, rückten ins Zentrum des Interesses, entwickelten aber auch ein Eigenleben. Wie dramatisch sich die Wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg verändert hat, kann man vielleicht am besten durch die Lektüre des Buches Making Physics von Robert P. Crease verstehen.
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Am Ende des Krieges standen die Physiker, die für Kriegszwecke gearbeitet hatten, vor der Frage, was sie nun anfangen sollten. 31 – Emilio Segrè, Nobelpreisträger 1959
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Mit immer größeren Beschleunigern entstand das Gebiet der Hochenergiephysik. Das handtellergroße Zyklotron, von Ernest Lawrence im Jahr 1930 entwickelt, wuchs auf den heutigen, schier unglaublichen Umfang von 27 Kilometern am CERN an. Entfaltet hier nicht schon die pure Größe eine suggestive Überzeugungskraft? Und doch wird der wissenschaftliche Fortschritt anders gemessen als der technologische.
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Seit Lawrence musste man, wenn man auf unserem Gebiet berühmt werden wollte, selbst den größten und leistungsfähigsten Beschleuniger haben. 32 – Carlo Rubbia,
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