Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
war aufgebrachter über die Panne, als sie sich hatte anmerken lassen. Diese Verzögerung ihrer Reise wirkte irgendwie persönlich. Als hätte sich das Universum gegen sie verschworen. Oder vielleicht war es auch Kimberly. Sie kannte diese Frau gar nicht wirklich, aber im Laufe der Jahre hatte sie ihr reichlich Macht angedichtet. Brian hatte liebevoll von ihr gesprochen und noch Jahre nach der Scheidung ihr Loblied gesungen. Wie oft hörte man so etwas von einem Geschiedenen? Marnie fragte sich immer, ob er sich insgeheim nach Kimberly sehnte, ob er sofort wieder mit ihr anfangen würde, wenn sie dazu bereit wäre, und Marnie ohne Zögern rausschmeißenwürde. Auch wenn der Gedanke lächerlich war, hatte Marnie das Gefühl, als hätte Kimberly sich in dem Wissen für Las Vegas als Wohnort entschieden, dass Marnie niemals einen Fuß in ein Flugzeug setzen würde. Dadurch wurde Kimberly für Marnie unerreichbar.
Wenn Brian und Troy ins Flugzeug stiegen und sie besuchten, blieb Marnie immer zurück. Brian erklärte energisch, er fliege nur um Troys willen mit, der Junge solle seine Eltern zusammen sehen. Aber warum kam Kimberly eigentlich so gut wie nie nach Wisconsin? Und wenn sie dann mal zu Besuch kam, warum betrat sie dann nie das Haus? (Was wahrscheinlich andererseits ganz gut war.) Stattdessen gingen Troy und Brian zu ihr ins Hotel.
Marnie hätte den Verdacht gehegt, dass Brian noch immer eine Liebesbeziehung zu Kimberly hatte, wäre nicht Troy dabei gewesen. Diesem Jungen entging nichts. Brian sagte immer, wenn Marnie mitkäme, würde Kimberly sich unwohl fühlen, und anfangs fand Marnie das schmeichelhaft. Später machte sie sich allerdings ihre Gedanken darüber. Nahm Kimberly Marnie übel, dass sie sie ersetzt hatte, oder wollte sie sich einfach nur nicht mit ihr abgeben? Sie spekulierte, dass Kimberly sich nach ihrem Umzug nach Las Vegas wohl ihr und ganz Wisconsin überlegen fühlte. Wahrscheinlich erzählte sie ihren neuen Freunden, dass die Leute aus dem mittleren Westen langweilig seien und sich nicht anziehen könnten. Dass sie nichts als Kartoffelsalat mit Bratwurst äßen. Dass sie die Wochenenden damit zubrächten, zu Waffenmessen und Monster-Truck-Rallys zu gehen. Kimberly war ganz Schick und Glamour. Marnie hatte noch nie ein unvorteilhaftes Foto von ihr gesehen, und sie hatte sie sich alle angeschaut und versucht, eines, wenigstenseines, zu finden, das auch nur ein bisschen unschmeichelhaft war. Aber Pech gehabt. Während der Sommerurlaube hatte Brian massenhaft Fotos gemacht und auf jedem einzelnen – ob sie nun aß oder redete oder lachte – sah Kimberly wunderschön aus. Es war wirklich unnatürlich, dass eine Frau derart fotogen war.
Marnie erledigte ihr Geschäft, schloss dann den Reißverschluss ihrer Shorts und warf die feuchten Servietten ins hohe Gras. Biologisch abbaubar, Gott sei Dank. Da brauchte sie kein schlechtes Gewissen wegen des Mülls zu haben. Sie machte ihre Handtasche auf, nahm ihr Händedesinfektionsmittel heraus und rieb sich mit einem Spritzer davon die Handflächen ein. Als sie fertig war, kehrte Marnie langsam zum Wagen zurück. Sie tastete sich vorsichtig vorwärts, um nicht über Steine oder Höcker im Boden zu stolpern. Schließlich wollte sie das Desaster der Panne nicht noch durch die Tragödie eines Sturzes vergrößern. Sie hatte auch so schon genug Probleme, wenngleich ihr der Gedanke kam, dass es durchaus eine dramatische Illustration ihres emotionalen Schmerzes wäre, wenn sie mit einem Gipsbein in Las Vegas auftauchte.
Sie hörte den Motorlärm, bevor sie die Scheinwerfer erblickte; oben auf der Böschung erkannte sie nun eine Gruppe von Motorradfahrern, nein, eine Gang von Motorradfahrern, die hinter Ritas Wagen hielten. Marnie erstarrte. Es waren vier Motorradfahrer und jetzt fuhren zwei von ihnen vor den Wagen und nahmen ihn in die Mitte. Die Motoren waren laut – sie dröhnten und röhrten. Der Geruch von Abgasen schwängerte die Luft. Ein Insekt flog vor Marnies Gesicht herum und sie schlug danach. Plötzlich wurden ihr auch ein paar juckende Stellen an den Beinen bewusst.
Die Motorradfahrer stellten ihre Maschinen aus und einer von ihnen trat ans Fahrerfenster. Marnie verrenkte sich den Hals nach ihm. Er war ein großer Mann mit breiten Schultern und selbstsicherem Schritt. Er trug eine dunkle Jacke, hatte ein rotes Kopftuch umgebunden und den Helm unter den Arm geklemmt. Er lehnte sich gegen den Wagen und blickte zum Fenster hinunter.
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