Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
für einen Jungen getan, den er nicht kennt.«
»Oh, du hättest es auch getan, wenn du ihn gesehen hättest«, erklärte Marnie voll Überzeugung. »Der Ausdruck in seinem Gesicht hätte dir das Herz gebrochen. Der arme Kerl. Ich konnte nichts anderes denken, als dass ich mir Hilfe für Troy wünschen würde, sollte er einmal in so eine Situation geraten.«
»Du hast ihn mit den Augen einer Mutter betrachtet«, meinte Laverne.
»Ich konnte nicht anders«, erwiderte Marnie und rückte den Winkel von Carsons Navi zurecht, das wieder mit seinem Saugnapf an der Windschutzscheibe klebte. »Wir sollten jetzt wohl losfahren. Ich möchte, dass wir noch zwei oder drei Stunden hinter uns bringen, bevor wir für die Nacht Halt machen.«
Sie fuhren um das Gebäude herum auf die Auffahrt zum Freeway. Marnie wollte ihren Augen nicht trauen, als sie in der Ferne eine vertraute Gestalt erblickte. Wie eine FataMorgana stand der Junge mit dem roten Kopftuch am Straßenrand, den Daumen nach Tramper-Art hochgereckt. »Das ist er«, rief Marnie aufgeregt. »Der Junge aus dem Lokal.«
»Mir kommt er eher wie ein Mann als wie ein Junge vor«, meinte Laverne, aber Marnie beachtete ihren Kommentar nicht, bremste und kam neben ihm zum Stehen.
»Hallo«, rief sie. »Erinnerst du dich an mich? Ich bin die Frau, die deine Rechnung bezahlt hat.«
»Ja, Ma’am«, erwiderte er. »Das weiß ich.« Er scharrte mit den Füßen, was sie als Geste der Bescheidenheit empfand. »Das war sehr nett von Ihnen. Vielen Dank.«
»Möchtest du mitfahren?«
Laverne streckte die Hand aus und packte die lose Haut an Marnies Ellbogen. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
Was für ein merkwürdiges Gefühl, wenn jemand einen am Ellbogen zupfte. Marnie schüttelte Laverne ab. »Wir fahren westwärts nach Las Vegas.«
Der Junge wartete nicht, sondern ging zur hinteren Tür des Wagens, bevor Marnie noch die Verriegelung öffnen konnte. Es kam zu einem ungeschickten Gefummel, da er zur selben Zeit an der Tür zog, in der sie entriegelte. Es funktionierte also nicht, aber beim zweiten Mal war das Timing besser, und er bekam die Tür auf und krabbelte auf den Rücksitz, als gehörte er dorthin. »Das ist cool, danke«, sagte er. »Ich will in dieselbe Richtung wie Sie.«
»Wohin willst du denn genau?«, fragte Laverne. »Und warum fährt dich niemand?« Sie klang ausgesprochen misstrauisch.
Um Lavernes Unhöflichkeit auszugleichen, sagte Marnie: »Ich heiße Marnie und das ist meine Freundin Laverne. Wir kommen aus Wisconsin.«
»Ich heiße Max«, gab er zurück und schnallte sich in einer einzigen, fließenden Bewegung an. »Aus Colorado. Ich bin auf dem Weg nach Kalifornien. Ich fahre so weit mit, wie Sie mich mitnehmen.«
»Ich habe einen Stiefsohn, der ungefähr in deinem Alter ist«, erzählte Marnie. »Er heißt Troy. Ich habe ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«
»Hast du auch einen Nachnamen, Max?« Lavernes Stirn war missbilligend gerunzelt.
Marnie hätte ihr am liebsten eine Kopfnuss verpasst, weil sie so schroff war. »Du brauchst ihn nicht zu verhören«, meinte sie steif. »Er hat einen harten Tag hinter sich.« Sie lenkte den Wagen auf die Straße zurück.
»Ja, es war wirklich ein harter Tag. Mein Vater hat mich sitzen lassen. Er ist sehr jähzornig und plötzlich hat er eine Sauwut gekriegt und ist einfach aus dem Restaurant rausgestürmt.«
»Weswegen war er denn so böse?«, fragte Laverne.
»Ich habe ihm gesagt, dass ich bei meiner Mutter leben möchte. Dass ich seine Beschimpfungen satt habe.«
»Na, das freut mich für dich!«, meinte Marnie und hoffte, dass ihre Begeisterung Laverne anstecken würde, ebenfalls ein bisschen freundlicher zu sein. »Und bist du deswegen auf dem Weg nach Kalifornien? Um zu deiner Mutter zu fahren?«
»Ja, genau«, erwiderte Max. »Sie hat das Sorgerecht, aber mein Dad hat mich für einen Besuch mitgenommen und nicht wieder zurückfahren lassen. Ich durfte sie nicht anrufen oder so. Sie fehlt mir schrecklich.«
»Ach, du Armer«, meinte Marnie. Sie wünschte, sie könnte sich umdrehen und ihn anlächeln, aber sie musste sich miteinem Blick in den Rückspiegel begnügen. Er begegnete ihren Augen allerdings nicht; er war zu beschäftigt damit, aus dem Fenster zu schauen. »Möchtest du mein Handy leihen, um deine Mom anzurufen?«
»Nö. Sie arbeitet im Moment, da könnte ich sowieso nicht mit ihr reden.«
»Du könntest ihr eine Nachricht hinterlassen«, sagte Marnie. »Sie
Weitere Kostenlose Bücher