Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
friedlich aus, dass sie ihn am liebsten gar nicht geweckt hätte. »Max«, sagte sie schließlich sanft, fast singend. »Wir machen jetzt Halt. Musst du mal zur Toilette?«
»Mom?« Seine Augenlider bebten.
Sie hätte am liebsten geweint. Große Kinder waren im Herzen genau wie kleine Kinder. »Nein, Max, ich bin nicht deine Mutter. Ich bin Marnie, erinnerst du dich? Wir nehmen dich im Auto mit.«
»Marnie?«
»Ja, genau. Wir haben uns im Restaurant kennengelernt.«
»Ach ja.« Max blickte sich um und gähnte dann laut. »Was machen wir hier?«
»Wir machen nur Halt, um zur Toilette zu gehen. Du könntest auch aussteigen und dir die Füße vertreten.«
»Okay.« Er schnallte sich los und sie trat vom Wagen zurück, um ihn hinauszulassen.
Auf der anderen Seite des Gebäudes ließ jemand seinen Laster an und schaltete die Scheinwerfer ein. Ihr Blick folgte dem Sattelzug, wie er den Parkplatz verließ und schwerfällig zur Auffahrt rollte. Max neben ihr reckte sich und lehnte sich träge gegen den Wagen. Sie erklärte ihm: »Ich gehe jetzt zur Toilette und ich habe mir gedacht, in ein paar Minuten könnten wir uns wieder hier treffen und deine Mom anrufen, bevor es zu spät wird. Ich weiß, dass du ihr Bescheid gegeben hast, aber ich würde mich besser fühlen, wenn ich selbst mit ihr reden könnte. Das verstehst du bestimmt«, meinte sie entschuldigend. »Es geht mir um deine Mutter. Ich kann mir nur vorstellen, wie ich mich fühlen würde, wenn mein Sohn im Wagen von Wildfremden durch die Weltgeschichte fahren würde. Ich meine, wir sind anständige Leute, aber woher soll
sie
das wissen?« Max betrachtete sie ausdruckslos. Sie machte die Handtasche auf und kramte darin herum, bis sie ihre Brieftasche fand. »Jetzt gebe ich dir ein paar Münzen und wenn es einen Getränkeautomaten gibt, hol dir, was du willst.« Sie öffnete den Reißverschluss des Münzfachs und steckte zwei Finger in die schmale Öffnung. Sie war sich bewusst, dass Max sie erwartungsvoll aus der Nähe ansah, aber sie war so darauf konzentriert, die Münzen herauszuholen, dass sie sein Näherkommen erst bemerkte, als er unmittelbar neben ihrstand. Als seine Hand ihren Arm packte und sie etwas Hartes und Scharfes fühlte, das ihr an den Leib gedrückt wurde, versuchte sie reflexhaft, sich loszureißen, aber sein Griff war zu stark. »Au, hör auf«, sagte sie und wand sich, konnte sich aber nicht befreien.
»Geben Sie mir die Schlüssel«, sagte er und seine Stimme klang kehlig und tief, ganz anders als zuvor.
»Max, was tust du?«, rief sie, da sie alles für ein Missverständnis hielt. Vielleicht hatte er im Wagen schlecht geträumt und war verwirrt. Vielleicht hatte er Angst vor ihr bekommen und glaubte, sie wolle ihm etwas antun. Alles glaubte sie eher als das, was sie jetzt sah – seine vorher so freundlichen Augen waren zu drohenden Schlitzen zusammengezogen. Der Druck seiner Hand an ihrem Arm war unerträglich.
»Geben Sie mir die verdammten Schlüssel. Und die Brieftasche auch.« Es war eine Stimme aus einem Horrorfilm. »Ich stoße zu, das schwöre ich bei Gott, ich schlitze Sie auf.«
Sie blickte nach unten und sah, dass er ihr ein Messer an den Leib hielt. Plötzlich begriff sie, wie real die Situation war, und sie flehte ihn verzweifelt an: »Bitte, Max, ich fahre dich, wohin du willst. Tu das nicht.«
Max stieß mit dem Messer zu und sie schrie auf vor Schmerz. Er zerrte an ihrer Handtasche und riss sie ihr aus der Hand. Sie konnte kaum glauben, wie stark er war. Er stieß sie zur Seite. Sie fiel rückwärts gegen den Wagen und ihr Kopf flog mit einem Ruck nach hinten. Er leerte jetzt ihre Handtasche und warf all ihre Sachen auf den Boden. Alles flog raus: ihr Lippenbalsam, Taschentücher, Zahnseide, ein Müsliriegel für Heißhungeranfälle, ein Paar Ersatzohrringe, Stifte und Hotelquittungen. »Warum haben Sie diesen ganzenMist dabei?«, murmelte er halb zu sich selbst. Sie bemerkte, dass er das Messer jetzt unter den einen Arm geklemmt hatte. Es war etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimeter lang, einschließlich des Griffs. Ein Jagdmesser? Ihr kam der Gedanke, dass sie versuchen könnte, ihn zu überrumpeln und ihm ihre Handtasche wieder zu entreißen, aber das tat sie nicht. Es war zu riskant.
»Bitte tu das nicht«, sagte Marnie schwach. Ihre Seite fühlte sich feucht an. Sie führte instinktiv ihre Hand hin und stellte fest, dass ihre Fingerspitzen voll Blut waren. Er hatte sie mit der Klinge erwischt. »Es muss
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