Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
hielt das graue T-Shirt hoch und sagte: »Für Sie?« Sie schüttelte den Kopf, da sie dachte, er versuche, die Besitzerin des Kleidungsstücks ausfindig zu machen. »Nicht meins«, antwortete sie.
»Nein«, meinte er und machte eine Geste des Suchens. »Fundsache. Sie behalten. Zum Heimfahren.«
Jetzt verstand sie. Von den Sanitätern über die Ärzte bis zu den Krankenschwestern waren alle enorm besorgt und fürsorglich gewesen. Sie waren um sie herum gewuselt und hatten sie und ihre Verletzung betüdelt. Und jetzt hatte dieser Mann, den sie nicht einmal kannte, sich Gedanken gemacht, was sie tragen würde, wenn sie von hier wegging. Er hatte persönlich nichts davon, dass er ihr das T-Shirt brachte. Sie war gerührt von seiner natürlichen Güte. Das half ihr, den Schock über die Bosheit zu überwinden, die Max so plötzlich an den Tag gelegt hatte. Die Menschen konnten einen überraschen. »Danke«, sagte sie und nahm das T-Shirt entgegen. Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, hielt sie es hoch und betrachtete es prüfend. Es war riesig und roch kräftig nach Waschpulver. Dennoch, Marnie war dankbar, es zu haben.
Als Laverne in Begleitung eines Polizeibeamten auftauchte, war schon alles Mögliche geschehen. »Hallo Mädel«, rief Laverne fröhlich und schob sich in den Raum. »Wie fühlst du dich?«
»Ziemlich gut«, antwortete Marnie und ließ das Kopfteil ihres Betts hochfahren, bis sie aufrecht dasaß. Es stimmte, sie fühlte sich wirklich ziemlich gut, auf eine merkwürdig weltentrückte Art. Seit die Wirkung der Medikamente eingesetzt hatte, schien sie sich auf einer anderen spirituellen Ebene zu befinden und mehr vom Leben zu verstehen als andere Leute, vielleicht sogar als alle Generationen vor ihr. Der junge Beamte, der Laverne begleitete, war auf eine fast noch polizeischülerhafte Weise gutaussehend. Einfach nur ein junger Kerl. Mit ihrer frisch erwachten Empfindsamkeit konnte sie spüren, dass er die Aufregungen seines Berufs genoss. An seiner höflichen Art, Laverne in den Raum zu führen, erkannte sie, dass er seineMutter und seine Großmutter liebte. Sein Haar war kurz geschnitten, selbst über den Ohren und im Nacken, was sie zu der Überzeugung brachte, dass er seine Rolle in der Gesellschaft ernst nahm. Man konnte so viel erkennen, wenn man aufmerksam hinschaute. Es wäre kein großer Schritt mehr für sie, ein Medium zu werden wie Jazzy.
Sie hatte den jungen Polizisten so lang angestarrt, dass er ihr wie eine zum Leben erwachte Statue vorkam, als er das Wort ergriff. Er sagte: »Ich muss Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen.« Er begann mit den einfachen Dingen – Name, Adresse und Geburtsdatum – und ging dann zu den Fragen über den Vorfall auf der Raststätte über. Er formulierte die Fragen so, dass Marnie Lavernes Geschichte nur bestätigen musste. Stimmte es, fragte er, dass Max Laverne mit dem Messer angegriffen hatte, als sie auf ihn schoss?
Marnie zögerte und blickte Laverne an. Diese sagte: »Sie hat auf dem Boden gelegen, da hat sie es vielleicht nicht richtig gesehen.« Der Polizist nickte und fügte das seinem Bericht hinzu. Rein theoretisch stimmte das nicht, aber Marnie verbesserte Laverne nicht. Sie begriff, dass der Polizeibeamte eine andere Wahrheit brauchte, die Art Wahrheit, mit der man die Angelegenheit beruhigt zu den Akten legen konnte.
»Es ist alles so schnell passiert«, sagte Marnie. Sie fühlte sich benommen und war sich über gar nichts mehr sicher. Vielleicht hatte Max sich ja
tatsächlich
auf Laverne gestürzt, als Marnie selbst auf dem Boden gelegen hatte. Möglich war alles.
»Und er hat gesagt, er würde Sie töten?« Der junge Mann hielt inne und sah Marnie an.
Sie dachte nach. »Er hat gesagt, er würde mich aufschlitzen.« In ihren Ohren hallten diese Worte immer noch nach.Sie war nichts als freundlich zu Max gewesen. Wie hatte er sie da angreifen können? Schlimmer noch, wie hatte sie ihn so falsch beurteilen können? »Er hat mir das Messer in die Seite gestochen und gesagt, er würde mich aufschlitzen.«
Laverne warf ein: »Ist das nicht dasselbe? Ich meine, du hattest das Gefühl, dass dein Leben in Gefahr war, oder, Marn?«
Sie nickte. »Ich dachte, ich wäre gleich auf der Stelle tot.«
»Sie sollten wirklich keine Tramper mitnehmen, meine Damen. Erstens ist es illegal. Zweitens ist es sehr gefährlich«, erklärte der Beamte fest. »In Ihrem Alter sollte man Ihnen das eigentlich nicht mehr sagen müssen.«
»Bekomme ich meine
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