Auf dem Maniototo - Roman
veränderliche Messwerte auf der Skala des Todes und erreicht nur selten den als Tod gekennzeichneten Punkt, dafür aber einen, an dem selbst der Tod geleugnet wird. Man könnte es auch als einen Verlust der Immunität gegen die Abwesenheit bezeichnen, wenn die Gäste plötzlich sagen: «Und was ist, wenn die Garretts jetzt hereinkommen?»
Und dann lachen sie in schuldbewusster Verlegenheit, so als hätte man sie bei einem Diebstahl erwischt – dem des Raums, den die Garretts früher genutzt und besessen haben.
«Was wäre, wenn sie hereinkämen?»
«Werden sie nicht.»
«Und wenn doch? Es ist bekannt, dass Menschen von Erdbeben verschüttet wurden und doch überlebt haben, dass sie monatelang hügelauf und hügelab gewandert sind, bevor man sie gefunden hat, und die ganze Zeit über galten sie als gefunden, identifiziert und begraben …»
«Und Irving und Trinity kannten sich in Norditalien aus.»
«Es ist erwiesen, dass sie in die Oper gingen. Und man hat sie gefunden.»
«In der Seniorenresidenz in Carmel wurde für sie ein Gedenkgottesdienst abgehalten. Irvings Modellstadt war ausgestellt.»
«Aber was ist, wenn sie jetzt hereinkommen, in diesem Augenblick?»
Dieser Refrain, verknüpft mit dem Beichtthema, wird täglich wiederholt und endet üblicherweise mit Rogers entschiedener Feststellung: «Die Zeit wird es weisen.»
Er besitzt die Fähigkeit, Gemeinplätze unverdient überzeugend klingen zu lassen, wobei er seinen Erfolg teilweiseder Tatsache verdankt, dass er sein gewohntes Leben nach Feststellungen ausrichtet, in denen jedes abstrakte Wort mit einem extragroßen Buchstaben beginnt, um den herum er dann die sein Leben bestimmenden Strukturen anordnet. Wer kann diesem blassen, feinfühligen Gesicht widerstehen, das durch die Torbögen der Vs (Veränderung, Verhältnisse) späht, der Bs (Begehren, Bedenken), der Es (Ewigkeit!), der Gs (Gnade, Güte, Gottheit) und der Zs, Ls und Ss von Zeit, Liebe und Schmerz?
«Ja», sagt er, «die Zeit ist Beweis genug und wird lehren, was schon gelehrt worden ist.»
Die anderen können nur zustimmen.
«Man bekommt das Leben, das man verdient», sagt Theo und tritt in den Banalitätenwettbewerb ein.
«Aber ich bezweifle, ob man auch den Tod bekommt, den man verdient.» Obwohl auch Theo zu verallgemeinernden Feststellungen neigt, wird er im Gegensatz zu Roger von ihnen nicht eingeschlossen und beherrscht und ist nicht abhängig davon. Mit einer Floskel konfrontiert, verhält sich Theo eher wie der «kühne Balboa (oder Cortez)» auf einem Hügel, der «wilde Vermutungen hegt» und Besitznahme im Sinn hat, denn sein Rettungsbedürfnis ist nicht auf Menschen beschränkt, sondern bezieht auch Formulierungen ein, die er in seinem Übermaß an Selbstvertrauen für das Ergebnis seiner Entdeckungsfahrten in eine zeitbedrohte Sprache hält. Er sieht nie die Abdrücke, Spuren und erstarrten Schatten all derer, die vor ihm da waren. Wenn Theo und Roger ihre Diskussion darüber beginnen, wie Menschen sich sprachlich «ansiedeln», sind die beiden Frauen davon ausgeschlossen, verharren stumm als deutlich gekennzeichnete Nullen ohne eine einzige Floskel zwischen sich. Die Männer verhalten sichso, wie wenn nur sie das Recht hätten, über Leben und Tod zu sprechen, wobei sie sich ihrer Sprachverfehlungen bedienen, um ihre schicksals- und rettungsbesessenen Egos zu stärken.
«Ich glaube», beginnt Doris mit klarer Stimme.
Keine Antwort. Niemand hört zu.
«Was den Satz angeht, dass jeder das Leben bekommt, das er verdient», beginnt Zita.
Niemand scheint sie zu hören.
Die Floskeln, die die beiden Männer zur Krönung ihrer Egos und zur Rechtfertigung ihrer Leben (der Dramen von Erde und Wüste) gebrauchen, entstammen derselben Familie von Gemeinplätzen, die es den Frauen erschwert, «sich zu verbünden».
«Frauen verbünden sich nicht so leicht wie Männer.»
Alles, was Frauen gemeinsam tun können, ist stricken und weinen. Zita, eine Expertin im Spitzenklöppeln, legt ihr Klöppelkissen bereit und beginnt, den Faden auf dem Klöppelholz geschickt zu ihrem Lieblingsspinnenmuster zu drehen, während Doris von ihren beiden Kindern spricht, ihrer Geburt, ihren ersten Geh- und Sprechversuchen, Anekdoten erzählt, von Momenten berichtet, die unverrückbar in ihrem Bewusstsein geblieben und so zu Monumenten geworden sind, die so viel Platz einnehmen, dass sie den Friedhof der Vergangenheit auf Räume auszuweiten drohen, die der Gegenwart und Zukunft vorbehalten sind.
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