Auf dem Rücken des Tigers
zwischenmenschlicher – und natürlich auch kommerzieller – Beziehungen gestellt worden war.
Es war kurz nach 18 Uhr, fast die Minute des von der Wetterwarte festgesetzten Sonnenuntergangs mitteleuropäischer Zeit. In Saigon war bereits der nächste Tag angebrochen, und US-Ledernacken, die zu dieser Stunde fielen, würden in den Staaten ihr Ende um volle zwölf Stunden überleben, ohne noch etwas davon zu haben.
Doch daran dachte die Gastgeberin nicht, überlastet durch mancherlei Vorbereitungen. In ein paar Stunden würde sie in ihrem Salon einen bekannten Sowjet-Dichter darreichen wie eine Dompteuse den gezähmten Tiger in der Manege. Es war nicht ungewagt, doch dem Foto nach verstand der Ehrengast aus Moskau seinen Smoking zu tragen, und eine Erkundung bei einer Berliner Freundin hatte ergeben, daß er über erstaunliche Manieren verfügte, solange er nüchtern war. Sicher konnte man bei einem Sowjetmenschen ja nie sein, wenngleich auch die Beziehungen zwischen Kapitalisten und Kommunisten weit unbefangener geworden waren als an ihren Ursprüngen.
Aglaia trug ein bodenlanges Abendkleid aus weißem Samt, sparsam, wenn auch kostspielig mit Steinen bestickt. Sie genoß es, einmal die Beine ganz zu verdecken, wiewohl sie makellos waren: lange Beine, schlanke Beine, Beine, nach denen die meisten Männer gierten – und die sich für wenige erschlossen hatten. Es tat gut, während der Herrschaft der Mini-Schicklichkeit wenigstens im Salon Attraktionen zu verbergen, wie sie die Straße schamlos darbot.
Die Gastgeberin wuchs ihrem Spiegelbild entgegen, als wollte sie es küssen. Sie mochte sich. Sogar dreiteilig. Von drei Seiten umschmeichelte sie der dreiflügelige Spiegel. Und dreimal durfte Aglaia mit sich zufrieden sein. Obwohl sie sich für ihre Empfänge viel Zeit nahm, hätten fünfzehn Minuten genügt, um ihr Gesicht zu präparieren.
Sie war ein wenig ungeduldig, nicht wegen des Empfangs; Aglaia wollte nicht in Gegenwart Eriks mit dem Professor sprechen. Sie war erleichtert, als das Mädchen endlich die Ankunft des Gastes meldete.
Sie ging sofort in dem Salon, einverstanden damit, daß Professor Habenschaden, ein großer, leicht vornübergeneigter alter Mann mit einem bösen Mund und harten Augen, nach flüchtigen Komplimenten sofort zur Sache kam. Der Experte des Erbrechts, ein kultureller Freund des Hauses, praktizierte nicht mehr, hielt nur noch gelegentlich Vorlesungen an der Universität. Somit war jeder Verdacht, sein Gutachten könnte von dem Bestreben beeinflußt sein, einen lukrativen Erbschaftsprozeß zu führen, von vornherein ausgeschlossen.
»Ein seltsames Testament, gnädige Frau«, begann der Experte, »wenngleich eine juristische Delikatesse.« Er griff nach seinen Unterlagen. »Möchte nur mal wissen, was sich Ihr Herr Schwiegervater dabei gedacht hat. Ich fasse ganz kurz zusammen. Das Werk gehört zu gleichen Teilen Ihrem Gatten, Ihrem Neffen Sebastian und Ihrem Schwager Christian. Sie sowohl wie Ihr Schwager sind kinderlos. Nach Ihrem und Ihres Schwagers Ableben würden beider Anteile an Ihren Neffen fallen, der als Erbe sein Drittel fest besitzt, während Ihnen nur der Nießbrauch zusteht.«
Es war nichts Neues für Aglaia; sie hatte sich seit langem mit den Klauseln des seltsamen Vertrages beschäftigt, aber immer nur eine Bestimmung herausgelesen, bei der ihr kein Gutachter der ganzen Welt helfen konnte: Aglaia mußte, wollte sie ihr Lehen in einen Besitz verwandeln, ein Kind haben. Um jeden Preis.
Und dieser Preis, das wußte Aglaia, war von ihr bezahlt worden, ohne dem Ziel nähergekommen zu sein. Sie hatte sich mit Erik auseinandergelebt, und sie waren nach dem Besuch von einem Dutzend Ärzten und mindestens dreimal so vielen Kuren noch immer kinderlos. Unter den von ihr zielstrebig und von Erik verdrossen exerzierten Zeugungsexperimenten waren schließlich Umstände eingetreten, die weitere Versuche utopisch werden ließen.
»Formaljuristisch ist gegen den Vertrag nichts einzuwenden«, erklärte Professor Habenschaden, »doch womöglich verstößt er gegen die guten Sitten. Ich sehe durchaus einen Anhaltspunkt, das Testament anzufechten, aber ich kann Ihnen für den Ausgang keinerlei sichere Hoffnung machen. Ich spreche nur von Möglichkeiten. Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß sich ein solcher Prozeß über viele Jahre hinziehen kann …«
Das alles wußte Aglaia, trotzdem ließ sie den Vortrag geduldig über sich ergehen wie eine Musterschülerin. Sie hatte
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