Auf dem spanischen Jakobsweg
Ortega steht, fing alles einmal sehr
klein an. Im Jahr 1080 wurde nicht weit von hier, an den Ufern des Ubierna, ein gewisser
Juan Velazquez geboren. Schon als jungen Mann zog es ihn in die Welt hinaus. Er
unternahm eine Pilgerreise nach Jerusalem, in der damaligen Zeit ein gewaltiges
Abenteuer mit gänzlich ungewissem Ausgang. Tatsächlich erlitt er auch
Schiffbruch, wurde aber gerettet, was er auf die Hilfe des Heiligen Nikolaus
von Bari zurückführte. Nach seiner Heimkehr, inzwischen zum Priester geweiht,
ging er in die Einsamkeit der Oca-Berge. An der Stelle, wo die heutige
spätromanische Kirche steht, baute er zunächst eine Einsiedelei mit einer kleinen
Kapelle und weihte diese aus Dankbarkeit für seine Errettung aus Seenot dem
Heiligen Nikolaus von Bari.
Ähnlich dem
heiligen Domingo de la Calzada, den wir schon kennengelernt haben und dessen
Schüler er wurde, sah er seinen Lebensinhalt in der Betreuung der
durchziehenden Pilger. Hierzu musste als erstes ein Weg durch die finsteren,
undurchdringlichen Oca-Berge geschlagen werden. Aber auch Brücken ließ er bauen
und neben seiner Einsiedelei entstand ein Pilgerhospiz. Schließlich gründete er
eine Mönchsgemeinschaft nach der Ordensregel des heiligen Augustinus. Mit dem
Bau eines Augustinerklosters wurde begonnen. Dieses wurde dann später, 1431,
von den Hieronymiten übernommen und erweitert. Der Bau der größeren,
spätromanischen Kirche soll noch auf die Pläne Juans zurückgehen. Im Jahre 1163
starb er im Alter von 83 Jahren. Später wurde auch er heiliggesprochen, und man
nannte ihn „San Juan de Ortega.“ Sein Grabmal steht in der heutigen, mehrfach
restaurierten und umgebauten Kirche.
Die Größe
des ehemaligen Klosters kann man erst dann richtig ermessen, wenn man um den
ganzen Gebäudekomplex herumgeht und auf der dahinterliegenden Wiese steht. Hinter
einer langen und geradlinigen Wand ohne alle Schnörkel verbargen sich einstmals
drei Stockwerke, die kleinen Fenster sehen aus wie Schießscharten. Ein Betreten
des mächtigen Gebäudes ist auch von dieser Seite aus nicht mehr möglich, denn
die wenigen Türen sind verrammelt. Auch sieht man, dass das Dach erheblich
zerstört ist. Es regnet hinein und Efeu, Holunder, Brombeeren und Brennesseln
haben schon vor langer Zeit ihren Würgegriff angesetzt. Warum nur berührt uns
das immer in der Tiefe, wenn wir auf alte Mauern stoßen, die einmal von Leben
erfüllt waren und jetzt zerbröckeln, weil die Natur ihre Wurzeln in sie treibt,
sie ganz allmählich auseinandersprengt und schließlich wieder als Sand und
Stein zu sich zurückholt?
Gegen 16 Uhr
tritt ein einfacher, bescheidener Mann, dem man ansieht, dass er hier nur eine
dienende Aufgabe hat, vor die Herberge, reicht jedem die Hand und erklärt uns,
dass sich alle oben im ersten Stock ihr Bett suchen könnten. Die Schlafsäle, in
denen jeweils ein paar sehr schlanke Säulen stehen, sind betont einfach, aber
geräumiger, als wir es üblicherweise antreffen. Zwischen den ziemlich wackligen
Stockbetten aus Eisen ist genügend Platz für unsere Rucksäcke. An der Säule,
die an mein Bett angrenzt, hängt ein bedruckter Zettel, dessen Wortlaut ich mir
nicht genau gemerkt habe, der aber sinngemäß lautete:
Wir wissen, dass unsere Betten
nicht bequem sind. Wir wissen, dass unsere Duschen nicht gut sind. Wir wissen,
dass unsere Kochgelegenheiten nicht ausreichen. Aber das alles ist ganz
unwichtig.
Wichtig allein ist Gott.
Und wir, die
Pilger, wissen schon lange, dass die dürftige Ausstattung der Herbergen gewollt
ist und Sinn macht. Das Charisma des Jakobswegs könnte man am schnellsten und
am vollständigsten dadurch zerstören, dass man behagliche Herbergen einrichtet.
Dann wären sie bald alle da, denen ein „komfortables Bett“, eine
„Super-Nasszelle“, ein „absolut hervorragendes Essen“ und ein „ganz toller
Service“ deshalb so wichtig sind, weil sie diesen sicherlich sehr netten
Schnickschnack schon so zu ihrem „Life-Style“ verinnerlicht haben, dass sie das
Fehlen dieser Dinge nicht mehr als Reisekuriosität, sondern als tiefes
persönliches Unglück empfinden, als eine Tragödie, über die man an langen
Winterabenden zu Hause den Freunden noch lange etwas verklagen wird.
Auch die Abendmesse
liest ein einfacher, bescheidener Mann, dem man ebenfalls ansieht, dass er hier
nur eine dienende Aufgabe hat. Ja, das ist er, der gleiche, der uns vor ein
paar Stunden die Hand gab und die Herberge öffnete. Natürlich, das ist der
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