Auf dem Weg nach Santiago
Compostela besetzt hielt. 24 Das Buch der Bruderschaft von Roquefort-des-Landes endet mit dem Jahre 1789
ebenso wie das von Senlis; doch wird dieses letztere nach einer Unterbrechung
weitergeführt bis zum Jahre 1829. Für René de La Coste-Messelière liegt der
beste Beweis für die Fortdauer und Lebenskraft der Wallfahrt im 18. Jahrhundert
in der erstaunlichen Ausschmückung der Stadt Santiago und ihrer Kathedrale; die
Wallfahrtskirche wird zum Juwel, in dem ein barocker Reliquienschrein gefaßt
ist. Ohne den Pilgerzulauf wäre so etwas nur schwer erklärbar; die
Verzeichnisse von Compostela bestätigen diese Behauptung übrigens das ganze 19.
Jahrhundert hindurch. 25
Im Jubiläumsjahr 1965 hatte Compostela
zweieinhalb Millionen Besucher, und der Erzbischof von Pamplona stiftete der
Kathedrale von Compostela eine Reliquie des heiligen Apostels Andreas.
Sind es erneut Pilger? Sind es nur
Touristen? Niemand begibt sich zufällig nach Finisterre, an dieses »Ende der
Welt«. Über das Dröhnen der Motoren und das Gedränge der Charterflugzeuge
hinweg bleibt etwas von der Anziehungskraft dieses Fleckchens Erde bestehen.
Doch wen besucht man? Den Heiligen? Oder das Heiligtum? Für die einen ein
heiliger Ort, für andere das Ziel einer außergewöhnlichen Reise zu romanischen
Kulturdenkmälern, auf jeden Fall Zeuge von zehn Jahrhunderten
christlich-abendländischen Geisteslebens, so ist Santiago uns nach wie vor aufs
innigste vertraut.
Die Herbergen von Santo Domingo, von
León und Compostela sind zu Luxusabsteigen geworden, an deren Giebelseite die
Sterne nur noch die Hotelkategorie anzeigen; das Wasser eines Stausees bedeckt
bei Puertomarin die Brücke, die der Pilger Pierre errichtet hat; an nicht
wenigen Orten haben die Revolutionen und Restaurationen Abteien, Kirchen und
Hospize dem Erdboden gleichgemacht oder ihrer Bestimmung entfremdet; überallhin
streckt unser Teer- und Betonzeitalter seine Fangarme aus.
Und dennoch! Sankt Jakobus und seine
Wege sind noch überall erkennbar, in unseren Landschaften wie in unseren
Traditionen: in den alten Brücken von Orthez, Estaing, Puente la Reina mit
ihren mal runden, mal spitzen Bögen, ihren Eselsrücken, ihren Ausweichstellen
rechts und links des Fahrwegs, wo sich die Fußgänger vor den Pferdegespannen in
Sicherheit brachten; in dem Jakobskreuz an der Furt durch die Couze, mit
Muschel und Stab, und in all den anderen Kreuzen, Türsturzen, Wappen, den
melancholisch von Efeu überwucherten Wegkapellen, in dem viereckigen Turm von
Aubrac, in all den vielen Brunnen, Wäldern, Scheunen; in Flurnamen und
überlieferten Bezeichnungen wie Sint-Djâke in den Ardennen, Saint-James in
Aquitanien, Saint-Jacqué oder Saint-Giaume in der Provence, San-Jamme oder
San-Jacmé in Toulouse, Chin-Dzaque in der Auvergne, Sent-Jagme im Baskenland,
Saint-Jammet im Périgord, San Jaime in Aragonien, San Yague oder San Yago in
Galicien...
Die islamische Architektur im letzten
Winkel unserer ländlichen Gegenden und die Kirche Nuestra Señora de Rocarnador
in Estella bezeugen, daß die Wege nach Santiago auch der Weiterleitung
kultureller Impulse dienten. Sankt Jakobus lebt in unserem Gedächtnis und ist
überall eingeschrieben. Ein Beispiel ist die coquille, wie der
Druckfehler im F ranzösischen genannt wird. Im 18 .Jahrhundert zeigten die
Korrektoren einen im Druck vergessenen Satzteil oder ein vergessenes Wort
dadurch an, daß sie an den Rand einen senkrechten, von einem kleinen Kreis
durchschnittenen Strich setzten; sie nannten dieses Zeichen bourdon (Stab) wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Pilgerstab; von daher also rührt der im
französischen Sprachraum übliche Branchenausdruck coquille (Muschel) für
den Satz- bzw. Druckfehler. 26
Ein anderes Beispiel findet sich in
einer alten Ballade aus dem Velay, der Geschichte von Pierre und Pernette, die
sich so sehr lieben, daß sie lieber sterben, als sich zu trennen:
Au chemin de Saint-Jacques
Enterrez-nous tous deux
Couvrez Pierre de roses
Et moi de mille fleurs
Les pèlerins qui passent
En prendront quelque brin. 27
Am Weg nach Santiago
Begrabt uns beide.
Bedeckt Pierre mit Rosen
Und mich mit tausend Blumen.
Die vorüberziehenden Pilger
Sollen ein Zweiglein davon nehmen.
Als der heilige Jakobus Karl dem Großen
erscheint, sagt er zu ihm, auf die Milchstraße weisend: »Die Sternenstraße, die
du am Himmel gesehen hast, bedeutet, daß du an der Spitze eines großes Heeres
nach Galicien marschieren wirst und
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