Auf dem Weg nach Santiago
nicht bekannt.
Der Liber Sancti Jacobi spart nicht mit Ratschlägen für die
Pilger, damit sie sich vor den verdorbenen Frauen in acht nehmen, vor den
liebestollen Mädchen, die ihnen überall auflauern, sowohl in den Wirtshäusern
als auch am Wegrand, um sie, die frommen Pilger, in die Versuchung des Fleisches
zu stürzen.
Bonnecaze spricht nur von zwei Frauen:
von der Wirtin, die ihn »großartig« mit Brennesseln peitschte, und von der
Witwe in Logroño, die ihm ein Paar Schuhe schenkte. Manier aber ist stets
empfänglich für die Schönheit der Frauen — oh, diese Zöpfe des Mädchens von
Roncesvalles! er spricht von ihnen mit einem überraschenden Feingefühl und dem
geübten Blick des Maßschneiders. Ganz besonders entzückt ist er in San Nicolás
del Camino: »In diesen Stadtvierteln lebt ein sehr sauber gekleidetes schönes
Geschlecht: eine schlanke Taille, die Ärmel ihrer Hemdchen knapp wie bei den
Männern in Frankreich, an den Ärmeln selbst schwarze Spitzen und auch am
Halsabschluß, was ihre Haut so weiß wie Alabaster erscheinen läßt, was freilich
nicht nötig wäre, da sie sowieso eine zarte Haut besitzen. Die Damen tragen
feine Hemden mit Spitzen unten von einem halben Fuß Länge .« 21
Weniger als das Verlangen scheint ihn
die Neugierde anzustacheln. Es ist noch nicht lange her, da bildete sich die
Vorstellung von der Welt im Verlauf abendlicher Gespräche heraus. In Legenden
und Reiseerzählungen übermittelte man, was man selbst gehört, beobachtet oder
erfahren hatte. Eine Wallfahrt nach Santiago, die so zahlreiche Gegenden
durchquert, ist eine einzigartige Gelegenheit, Bilder und Wirklichkeit
miteinander zu konfrontieren. Bevor die Massenmedien das Feld beherrschen, ist
die Neugierde eine wahre Sucht, kritisch und direkt, gern voll Verachtung für
alles Fremdartige und empfänglich für jedes Geschwätz und jegliche üble Nachrede
— Aymeri Picaud hält die Leute von Navarra für aller Sünden auf dem Erdboden
fähig.
Gasthaus und Schenke sind ein
ausgezeichnetes Experimentierfeld für den Wanderer, der ein Land nach seinem
Wein und seinem Brot beurteilt — zuerst deshalb, weil es sich hier um
wesentliche Dinge handelt, und dann, weil man sich auf diesem Gebiet auskennt
und Erfahrung hat, und schließlich auch, weil man nach einem Tagesmarsch eine
ausgiebige Mahlzeit braucht.
Aymeri Picaud rühmt in seinem
Reisebericht »den vorzüglichen Wein und den reichlichen Fisch« der Gegend von
Bordeaux; er macht warnend darauf aufmerksam, daß die Landes eine
»gottverlassene Gegend [sind], wo es an allem fehlt; es gibt weder Brot noch
Wein, noch Fleisch, noch Fisch«; auch das Baskenland ist »arm an Brot, Wein,
Lebensmitteln aller Art«, doch findet man hier »zum Ersatz Äpfel, Most und
Milch«; in Kastilien herrscht Überfluß an »Brot, Wein, Fleisch, Fisch, Milch
und Honig«; in Galicien schließlich »gibt es gutes Obst und klare Quellen.
[...] Weizenbrot und Wein sind rar, aber Roggenbrot und Most sind reichlich
vorhanden [...], auch Milch und Honig; man fängt hier sehr große Seefische,
freilich nicht viele .« 22
Le Grand Itinéraire de Paris (Der Große Pariser Reiseführer) führt
nacheinander alle Städte auf, die man durchqueren muß, will man die 359 Meilen
bis nach Santiago wandern. Nur fünfmal unterbricht er diese Litanei, um eine
zusätzliche Information zu geben; nach Ponferrada heißt es: »Hier ist
wohlgemerkt der Eingang in das Land Galicien und das Ende des Landes Spanien
und der guten Weine .« 23
Alle Pilger rühmen seit zehn
Jahrhunderten die spanischen Weine, sowohl ihrer Güte als auch ihrer Schwere
wegen:
Here wyn is thecke as any blode
And that wull make men wode . 24
Hier ist der Wein schwer wie Blut,
Und das macht die Menschen wild.
Der Wein ist so wichtig, daß die
Schenken seine Farbe anzeigen. »In dem ganzen genannten Land«, so weiß es Jean
de Tournai, »hängt man außen ein Strohbündel aus, wenn es Weißwein gibt; bei
Rotwein ist es eine rote Decke, die draußen hängt .«
Aufbewahrung und Transport des Weins
bringen Jean de Tournai wie auch Manier ins Staunen. »Im ganzen Land«, so
erklärt der Flame, »bewahrt man den Wein, weißen wie roten, in genähten
Ziegenhäuten auf [...], und man füllt den Wein durch das Hinterbein in den Krug
ab. Im ganzen Land besteht der Brauch, den Wein in Ziegenhäute zu füllen, weil
die Hitze hier zu groß ist und auch weil er von Eseln getragen werden soll oder
von Maultieren oder Pferden
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