Auf den Flügeln des Adlers
Führungsoffizier des Passagiers, auf den er wartete, blieb nur noch wenig Zeit im Dienste des Außenministeriums Ihrer Majestät. Eine Tatsache, die ihm stets vor Augen stand, denn der Krebs fraß an seinem Körper und beraubte ihn seiner Lebenskraft. Wie lange noch? Seiner Schätzung nach höchstens sechs Monate.
Mühsam humpelte er vor, als die wenigen Menschen am Kai zu dem Schiff drängten, das jetzt in den Hafen dampfte. Mit tränenden Augen suchte er unter den Passagieren des Leichters nach der auffälligen, breitschultrigen Gestalt des Mannes mit der schwarzen Augenklappe. Als er ihn zwischen den Chinesen und Europäern entdeckte, die mit dem Schiff aus Singapur gekommen waren, fühlte er sich an Odysseus erinnert, der nach seiner Penelope Ausschau hielt. »Mein lieber Junge!«, seufzte er, während ihm Tränen des Glücks über die Wangen liefen. »Endlich bist du von deiner Irrfahrt durch den Orient heimgekehrt.«
Dabei war Michael Duffy alles andere als ein Junge. In den zehn Jahren, in denen er den Orient bereist hatte, hatte er andere Namen und Nationalitäten angenommen. Nur so war er den Leuten entgangen, die seiner Spionagetätigkeit gern dauerhaft ein Ende gesetzt hätten und denen sein gewaltsamer Tod höchst gelegen gekommen wäre. Obwohl er bereits Mitte vierzig war, war sein Körper immer noch straff und muskulös, und das verbliebene blaue Auge leuchtete voller Energie, auch wenn sich mittlerweile graue Strähnen durch sein dichtes, einst braunes Haar zogen. Wie in seiner Jugend trug er es so lang, dass es fast bis auf den Kragen seines makellos weißen und gestärkten Hemdes fiel. Eine frische Augenklappe bedeckte die leere Höhle, die ein Artillerieschrapnell der Konföderierten im amerikanischen Bürgerkrieg hinterlassen hatte. Sein gebräuntes Gesicht war glatt rasiert und zeigte keinerlei Spuren des Alters. Nach wie vor verdrehte seine herbe Attraktivität Frauen jeden Alters den Kopf.
»Mein lieber Mister O’Flynn!« Horace ergriff Michaels ausgestreckte Hand, als dieser an Land gegangen war. »Es ist schön, Sie bei so guter Gesundheit zu sehen.«
Michael war entsetzt, als er sah, wie hager Horace geworden war. Als er den Mann, der sich jetzt so tapfer bemühte, munter zu wirken, zum letzten Mal gesehen hatte, war er eher beleibt gewesen, ein kräftiger Bursche, der das Opium und chinesische Knaben liebte. Das hier war nicht der Mensch, den er zurückgelassen hatte, als er in den Fernen Osten aufgebrochen war. Ein paar Sekunden lang verschlug ihm diese Verwandlung die Sprache. Völlig unerwartet fühlte er eine Welle des Mitgefühls für den Mann in sich aufsteigen, der seine letzten Jahre mit der Rücksichtslosigkeit des Fanatikers bestimmt hatte. »Horace, alter Junge1. Wie geht’s denn so?« Sofort bereute er die taktlose Frage, denn es war offensichtlich, dass der andere schwer krank war.
»Gar nicht so schlecht, Michael, gar nicht so schlecht.«
Michael hätte schwören können, dass der harte, rücksichtslose Mann, der den Krimkrieg von 1854 überlebt und in Asien und im Pazifikraum gefährliche Intrigen gegen seine deutschen Gegner geschmiedet hatte, den Tränen nahe war. Um von dieser für beide peinlichen Situation abzulenken, legte er dem kleineren Mann den Arm um die Schultern und steuerte ihn über den Kai in Richtung Stadt.
»Ihren Berichten habe ich entnommen, dass es für Sie von Zeit zu Zeit brenzlig wurde, alter Junge. Hoffentlich nicht zu brenzlig«, sagte Horace, während er langsam neben dem großen Iren herging. »Ich hatte oft Angst, Ihr hitziges irisches Temperament würde Sie in Schwierigkeiten bringen.«
Bei der Vorstellung, dass sich der Engländer um ihn sorgte, schnaubte Michael amüsiert. »Sie meinen, Sie hatten Angst, mich zu verlieren, weil Sie dann jemand anderen hätten finden müssen, der für Sie die Dreckarbeit erledigt.«
»Das stimmt nicht, alter Junge«, protestierte Horace empört. »Ich habe Sie im Laufe der Jahre sehr ins Herz geschlossen.« Michael wusste nicht, ob er ihm glauben sollte. Horace Brown war gleichzeitig rücksichtslos und sentimental.
Nachdem sie den Kai hinter sich gelassen hatten, stellte Michael überrascht fest, dass Townsville seit seinem letzten Besuch im Jahre 1875 gewachsen war. Zwar beherrschten immer noch Wellblech und Holz das Bild, doch es gab auch schöne öffentliche Gebäude aus Stein und Ziegeln. Mitten in der Stadt erhob sich der große rote Felsenberg, der zum Landesinneren hin die Sicht beherrschte,
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