Auf den Flügeln des Adlers
meinem Leben noch übrig ist, Horace. Die Geister der Vergangenheit habe ich im Ausland zurückgelassen. Ich habe genug.«
»Was würden Sie hier denn tun, Michael? Sie haben keine nennenswerten Ersparnisse, ein Leben als Maler ohne Einkünfte ist also ausgeschlossen. Wollen Sie für Ihre Schwester arbeiten? Im Laden verkaufen oder die Bücher führen? Glauben Sie wirklich, dass Sie so leben können, nach allem, was Sie gesehen und getan haben? Denken Sie, meine Kontaktleute könnten Sie davor schützen, dass mitten in der Nacht die Polizei mit einem Auslieferungsbefehl nach Neusüdwales an die Tür klopft, damit Sie dort wegen Mordes vor Gericht gestellt werden können?«
»Die Frage ist wohl nicht, ob sie das können, sondern ob sie es wollen.«
Darauf antwortete Horace nicht, denn er wusste, dass Michael Recht hatte. Wenn er seinen Auftraggebern nicht mehr von Nutzen war, gab es keinen Grund, ihn weiter vor der Justiz zu schützen. »Das ist nicht meine Entscheidung, mein lieber Junge. Wenn ich selbst zu bestimmen hätte, würde ich Sie nicht bitten, diesen letzten Auftrag auszuführen«, entschuldigte er sich traurig. »Aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass die Krone danach einen Weg finden wird, sich erkenntlich zu zeigen und Sie für die treuen Dienste zu belohnen, die Sie der Königin erwiesen haben. Gott weiß, dass Sie für alles, was Sie getan haben, eine Anerkennung verdienen.«
»Warum beauftragen Sie nicht jemand anders?«, fragte Michael.
»Weil sich in Sydney eine Situation ergeben hat, die Sie mit Ihren Talenten und Ihrem Wissen am ehesten in den Griff bekommen.«
»Sydney! Jesus, Maria und Josef!«, explodierte Michael. »Das ist der letzte Ort, an den ich freiwillig gehen würde. In Sydney erwischen mich die Greifer bestimmt. Warum annektiert Ihre britische Regierung Neuguinea denn nicht selbst?«
Horace lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schürzte verärgert die Lippen. »Weil dort Dummköpfe sitzen, die sich weigern, auf Leute zu hören, die es besser wissen. In London haben wir Männer wie Lord Derby vom Kolonialministerium, die Gladstone erzählen, die Resolutionen des vor einigen Jahren in Sydney abgehaltenen Interkolonialkongresses wären Hirngespinste naiver Kolonialregierungen. Die Bedrohung, die im pazifischen Raum für Australien heranwächst, ist angeblich reine Einbildung. Gladstone glaubt nicht, dass Bismarck Neuguinea annektieren will. Er ist sogar so weit gegangen, den Deutschen zu versichern, dass er keinerlei Absicht hat, die in den Entschließungen von Sydney vorgesehenen Annexionen durch Großbritannien vorzunehmen. Das ist der Grund.«
Michael wusste, dass der Engländer das Engagement des deutschen Kaiserreichs im Pazifik in hohem Maße beunruhigend fand. Während seine Kollegen im britischen Außenministerium immer noch Frankreich für den Erbfeind Englands hielten, hatte Horace als einsamer Mahner immer wieder auf die rasche Expansion der deutschen Militärmaschinerie in Europa hingewiesen. Er hatte genau vor Augen, wie die Handelsstützpunkte, die die Deutschen in den annektierten Gebieten errichten würden, in einigen Jahren für künftige Militäroperationen gegen die strategischen Interessen Großbritanniens genutzt werden konnten. Annexionen waren für Horace notwendig, wenn man sich im Schachspiel der internationalen Politik durch strategische Züge die militärische Überlegenheit sicher wollte. Die politischen Führer Australiens waren der gleichen Ansicht.
Horace hatte sein Leben lang dafür gekämpft, die Pläne der Deutschen im Pazifik zu durchkreuzen. Dabei hatte sich die Tatsache, dass Michael Duffy fließend Deutsch sprach, als wertvoller Trumpf in Horace’ unerklärtem Krieg gegen Deutschland und dessen verdeckte Operationen erwiesen. Sein Gegner im Pazifik war Bismarcks Geheimdienstchef für diese Region gewesen: Baron Manfred von Fellmann.
Seufzend goss sich Michael Champagner nach. »Wenn Sie wissen, dass die verdammten Deutschen Neuguinea annektieren wollen, wieso brauchen Sie mich dann in Sydney?«, knurrte er. »Offensichtlich interessieren sich diese Idioten in London doch nicht besonders dafür, was hier draußen passiert.«
»Das würde sich ändern, wenn ich beweisen könnte, dass von Fellmann eine Expedition zur Annexion der Nordhälfte Neuguineas und der umgebenden Inseln plant«, erwiderte Horace ruhig. »Aber ich habe nichts in der Hand. Ich weiß nur, dass er plötzlich als Vertreter einer deutschen Handelsgesellschaft nach Sydney
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