Auf den Flügeln des Adlers
hatte ihrem Bruder geschworen, niemandem aus der Familie zu verraten, dass er noch am Leben war. Für die anderen war er begraben und betrauert. Sie hielt nichts davon, aber sie würde dieses Versprechen niemals brechen. »Vielleicht solltest du die Vergangenheit besser hinter dir lassen«, warnte sie sanft. »Wer an Vergangenes rührt, muss häufig feststellen, dass es die Gegenwart in einer Weise beeinflusst, die einem nicht gefällt.«
»Das muss ich selbst herausfinden, Kate«, antwortete Michael bestimmt, um einer weiteren Predigt zuvorzukommen. »Aber ich werde weder mein Leben noch das von John leichtsinnig aufs Spiel setzen. Doch ich habe einen Auftrag zu erledigen, bei dem ich mich auch mit verschiedenen Aspekten meiner Vergangenheit auseinander setzen muss. Und ja: Fiona ist einer davon, aber das habe ich mir nicht ausgesucht.«
»Was immer du tust, vergiss nicht, dass du einen Sohn hast, dem du wahrscheinlich eines Tages begegnen wirst«, erinnerte ihn seine Schwester. Sie wusste, wozu ihr wilder Bruder fähig war. »Du willst wohl kaum, dass er ein Leben führt wie du.«
Michael warf den Kopf zurück und lachte. »Ein britischer Offizier! Mein Sohn ist ein verdammter britischer Offizier. Dad würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wusste, dass sein Enkel die Uniform seines Erbfeinds trägt. Und du machst dir Gedanken darüber, dass er herausfindet, wie ich lebe!«
»Das habe ich nicht gemeint, Michael«, sagte Kate ruhig.
»Das Schicksal scheint ihn auf einen Weg der Gewalt geführt zu haben, der deinem gar nicht so unähnlich ist. Findest du es nicht seltsam, dass dein Sohn Soldat geworden ist?«
»Ich wollte immer Maler werden, Kate«, erinnerte Michael sie, während er sein Glas leerte, »kein verdammter Söldner.« Im Mondlicht, das die Schatten auf seinem Gesicht milderte, sah sie seinen Schmerz über sein verlorenes Leben. »Diese Neigung zum Militär muss er von der Familie seiner Mutter haben.«
Sarah erschien in ihrem neuen Kleid auf der Veranda. Es betonte jede anmutige Kurve ihres erblühenden Körpers, und sie drehte sich um sich selbst, sodass das Kleid um ihre Knöchel wirbelte. Michael lächelte. Merkwürdig, dass dieses hübsche, graziöse Wesen die Tochter seines Bruders sein sollte, den er bei aller Liebe nur als schlaksigen, ungeschickten Tölpel in Erinnerung hatte. Schönheit und Anmut muss sie von ihrer Mutter geerbt haben, dachte er, während er seiner ehrlichen Bewunderung Ausdruck verlieh. Wie sie da im Mondlicht stand, war sie wirklich bezaubernd. Der Rum und die Gesellschaft der einzigen Familie, die er noch hatte, halfen ihm, alle Sorgen um die Zukunft zu vergessen.
Als sich Michael später verabschiedete, um zu dem Schiff zu gehen, das ihn südwärts bringen würde, hörte Kate die klagenden Schreie der Brachvögel. Abergläubisch schauderte sie in düsterer Vorahnung. Waren das nicht die Geister der Toten, die die Nacht heimsuchten? War nicht der ganze Tag voll schlimmer Vorzeichen gewesen?
Das Hämmern an der Tür der Cohens weckte das ganze Haus auf. Stöhnend rollte sich Solomon auf die Seite. Wer konnte sie nur zu dieser unmenschlichen Morgenstunde aus dem Schlaf reißen?, dachte er, während er sich benommen neben seiner Frau im Bett aufsetzte.
»Judith!« Das Entsetzen in der Frauenstimme, die von der Veranda hereindrang, war unverkennbar.
»Kate, bist du das?«, fragte Judith zurück, während sie sich eine Stola um die Schultern legte. Noch vor ihrem Ehemann sprang sie aus dem Bett. Die Erkenntnis, dass etwas Entsetzliches geschehen sein musste, wenn Kate sie um diese Zeit störte, hatte jede Schläfrigkeit vertrieben. »Ist was passiert?«, rief sie, während sie nach einer Petroleumlampe griff und den Docht entzündete. Nach kurzem Flackern verbreitete die Lampe ein beständiges, blässliches Licht. Draußen im Anbau, wo die Jungen geschlafen hatten, wurde verschlafenes Gemurmel laut, während Judith zur Tür lief. Kate war blass und zitterte vor Angst. So hatte Judith ihre Freundin seit vielen Jahren nicht mehr gesehen.
»Oh, Judith, Luke ist etwas Schreckliches zugestoßen«, stieß Kate hervor, bevor Judith ein Wort sagen konnte. Instinktiv legte sie den Arm um Kates Schultern und führte sie ins Esszimmer. Hinter Solomon war Willie aufgetaucht. Beide Männer starrten Kate, die offenbar direkt aus dem Bett kam und noch ihr Nachthemd trug, mit glasigen Augen an.
»Ich habe einen entsetzlichen Traum gehabt«, flüsterte Kate mit heiserer Stimme,
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