Auf den Flügeln des Adlers
Hughes, Brigademajor.
Die schlichte militärische Wendung bedeutete den Verlust des einzigen Menschen, den sie nach dem Tod ihres Sohnes David lieben gelernt hatte. Soldaten verschwinden nicht so einfach, dachte sie ungläubig, betäubt von dem Schock. In der Sprache der Armee hieß das: Er war tot, aber seine Leiche war nicht gefunden worden.
Das Dienstmädchen hörte den erstickten Schrei und eilte zur Bibliothek. Ohne anzuklopfen, stürzte sie hinein und erblickte Lady Enid zu ihrem Entsetzen kreidebleich und reglos in dem riesigen Ledersessel hinter dem Teakschreibtisch. Sie sah aus, als wäre sie tot, atmete aber noch. Doktor Vane musste geholt werden!
Michael Duffy betrachtete die Nachbildung der aus Gold und Silber gefertigten Brustplatte eines längst verstorbenen römischen Generals. Mit müßiger Neugier fragte er sich, wie viel das Original, das in irgendeinem europäischen Museum aufbewahrt wurde, wohl kostete. Das Objekt stammte von einer Ausgrabung bei Hildesheim in der Nähe von Hannover, wo es fünfzehn Jahrhunderte lang in der Erde gelegen hatte. Römische Legionen auf dem Rückzug hatten es zu einer Zeit vergraben, als die wilden Krieger des Nordens aus den dunklen Wäldern ihres Landes brachen, um nach Süden auf das Herz des Römischen Reiches zuzumarschieren. Mit ihnen begann jene Zeit, die europäische Gelehrte als das »finstere Mittelalter« bezeichneten.
Der Treffpunkt mit Colonel George Godfrey war gut gewählt, dachte Michael, während er über die Verbindung zur Vergangenheit nachdachte. Die Krieger, die den römischen General gezwungen hatten, seine kostbare Brustplatte zu verstecken, würden möglicherweise erneut über das moderne Europa herfallen. Nicht als ungestüme Barbaren, die Schwert und Speer schwangen, sondern als gut ausgebildete, disziplinierte Truppen, die mit den modernsten Massenvernichtungswaffen von Krupp ausgerüstet waren. Diesmal waren nicht die römischen Kaiser bedroht, sondern das britische Empire und die englische Krone.
Das neu eröffnete Museum in der College Street gegenüber dem herrlichen Hyde Park im quirligen Herzen von Sydney besaß Schätze der Geschichte von Natur und Technik, die sich mit denen der renommiertesten internationalen Museen dieser Art messen konnten. Ausgestopfte exotische Säugetiere, Vögel und Fische aus der ganzen Welt brachten der australischen Öffentlichkeit die in zunehmendem Maße bedrohte Natur des Planeten näher. Stählerne Eisenbahnen drangen in die dampfenden Regenwälder ein und stampften über die weiten, einsamen Ebenen Afrikas und Amerikas. Mit ihnen kamen Einwanderer, Wissenschaftler, Touristen und Unternehmer.
»Guten Morgen, Mister Duffy«, sagte eine Stimme an seiner Seite. Michael wandte sich um und begrüßte Colonel Godfrey, der ebenfalls die Brustplatte in der Glasvitrine betrachtete. »Eine wunderbare Nachbildung römischer Handwerkskunst, finden Sie nicht?«
»Das Original würde ich mir gern über den Kamin hängen«, erwiderte Michael lächelnd. »Es muss ein kleines Vermögen wert sein.«
»Da haben Sie wohl Recht«, stimmte Godfrey zu und hängte sich den zusammengeklappten Schirm, den er bei sich trug, mit dem Griff über den Arm. Draußen braute sich eines der kurzen, aber heftigen Gewitter zusammen, die sich häufig über der Stadt entluden. »Wie sind Sie in den letzten Tagen mit Ihren Erkundigungen vorangekommen?«, fragte der Colonel, während die beiden Männer langsam von dem Ausstellungsobjekt zu einer Holzbank für erschöpfte Besucher schlenderten.
»Die Männer, die auf dem Schiff des Barons arbeiten, sind tatsächlich Marinesoldaten des Kaisers. Das hatten Sie und Horace ja bereits vermutet«, sagte Michael, während er sich setzte. »Mein Deutsch war gut genug, um sie davon zu überzeugen, dass ich den Bestrebungen des Kaisers, diesen Teil der Welt an den Segnungen der deutschen Kultur teilhaben zu lassen, positiv gegenüberstehe.«
Michael hatte herausgefunden, welches Lokal die Marinesoldaten besuchten, wenn sie sich nicht auf dem vorgeblichen Handelsschiff aufhielten, das im Hafen von Sydney vor Anker lag. Er hatte sich bei ihnen als Ire eingeschmeichelt, der grundsätzlich gegen alles Englische war. Sein flüssiges Deutsch erklärte er mit seiner deutschen Mutter aus Hamburg. Die reichlich fließenden Spirituosen lösten den Deutschen die Zunge, sodass er einiges an nützlichen Informationen aufschnappen konnte.
»Und wie sieht es mit Mister Wongs Bemühungen aus?«,
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