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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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werden, verließ sie den Weg und überquerte den Platz, auf dem die Pfützen verschwunden waren und nur noch der weiche, rutschige Boden an den Regen der letzten Monate erinnerte. Im Grasgürtel, der sich die Ebene entlangzog wie ein struppiger Pelzkragen an einem abgetragenen Mantel, schaltete sie die Taschenlampe ein. Ein Reiher flog vor ihr auf. Sein weißes Gefieder fing sekundenlang den Lichtstrahl ein, dann versank er ohne ein Geräusch in der Dunkelheit.
    Am Strand blieb sie eine Weile dort stehen, wo die Wellen versickerten und der Sand fest war, und sah aufs Meer hinaus. Zum ersten Mal, seit Tanvir ihr nahegelegt hatte, die Insel zu verlassen, fragte sie sich, ob sie ihm trauen konnte. Vielleicht, dachte sie, war die Geschichte mit den muslimischen Freiheitskämpfern nur ein weiteres seiner Phantasieprodukte, ein gut inszenierter Versuch, die Frau loszuwerden, die seine letzten Hoffnungen auf den Posten des Stationsarztes zunichtegemacht hatte. Vielleicht war er tatsächlich nicht richtig im Kopf, wie Ester gesagt hatte, und machte aus harmlosen Fischern religiöse Extremisten, aus ein paar verschrobenen Inselbewohnern eine blutrünstige Bande, die ihr und den übrigen Fremden nach dem Leben trachtete.
    Dann schüttelte sie den Kopf, hob einen Stein auf und warf ihn in die Brandung. Nein, sagte sie sich, Tanvir war nicht verrückt. Möglicherweise übertrieb er die Gefahr etwas, aber offenbar machte er sich wirklich Sorgen. Und der Gedanke, er könnte neidisch auf sie sein, weil Raske ihr erlaubte, neben den Primaten auch die Stationsbelegschaft ärztlich zu betreuen, war geradezu lächerlich. Sie glaubte ihn mittlerweile gut genug zu kennen, um zu wissen, dass er sich mit seiner Situation auf der Insel abgefunden hatte und niemanden als Feind betrachtete, nicht einmal Raske, mit dem er ein für beide Seiten annehmbares und einträgliches Abkommen getroffen zu haben schien. Er genoss den Schutz seinerFreundin Nancy Preston, von deren Stiftungsgeld Raske profitierte, der wiederum für Nancy wichtig war, weil er IPREC vertrat.
    So gesehen bildeten die drei eine perfekte Symbiose, und Megan fragte sich, was Raske vorhatte, um diesen Zustand zu bewahren. Sie ging den Strand entlang, der über und über mit Treibgut bedeckt war. Ab und zu bückte sie sich und hob ein Stück Holz auf, ein Stück Plastik oder eine Flasche, die leer war und keine Nachricht enthielt von einem gestrandeten Matrosen oder einem kleinen Mädchen, das vor langer Zeit in Irland auf einen Antwortbrief vom anderen Ende der Welt gewartet hatte. Sie fragte sich, ob Raske tatsächlich plante, auf der Insel zu bleiben, und beschloss, ihn zu fragen. Vielleicht war alles halb so schlimm, überlegte sie, und mit den Männern, die Tanvir als gefährlich und unberechenbar bezeichnete, ließ sich verhandeln.
     
    Das Schiff stand so plötzlich vor ihr, dass sie es für eine optische Täuschung hielt, einen Trick, den ihr die vom Licht der Taschenlampe ermüdeten Augen und das von Tabletten wattierte Hirn spielten. Sie blieb stehen, schaltete die Taschenlampe aus, schloss die Augen und öffnete sie wieder. Das Schiff war noch immer da. Es lag draußen an seinem Ankerplatz, im leichten Wellengang schaukelnd. Ein paar Lampen brannten an Bord, weiße und gelbe Punkte und Striche. Der Anblick hatte etwas Heiteres, als würde an Deck ein Fest gefeiert und jeden Moment Musik erklingen.
    Am Ende des Holzstegs, der bei Flut ein Stück weit ins Meer hinausragte, war das Ruderboot vertäut. Hob eine Woge es sanft an, konnte Megan seine weißgestrichene Seite sehen. Während sie auf das Schiff zuging, sah sie sich ständig um und war bald überzeugt, alleine am Strand zu sein. Wenn sich jemand an Bord befand, hielt er sich im Innern auf.
    Die Decke am Himmel war mit jeder Stunde dichter geworden, die Nacht immer dunkler. Am Horizont bauschten sich Wolken, gewaltige Kulissen auf der Bühne des Meeres. Der Wind frischte auf und blies Megan den Geruch fauligen Tangs und vermodernden Holzes ins Gesicht. Als sie die im Sand liegenden, mit Draht verbundenen Bretter erreichte, die erst auf den letzten zwanzig Metern zu einer Art Steg wurden, blieb sie erneut stehen und wartete. Abgesehen vom Rauschender Brandung vor ihr und dem flirrenden Gesang der Zikaden in ihrem Rücken herrschte Stille. Sie zog die Schuhe aus und ging zum Ende des Stegs. Ein Paar Ruder und eine Schwimmweste lagen im Boot, in einer Wasserlache dümpelten Zigarettenfilter. Erst jetzt sah Megan die

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