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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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hochrappelte. Ein Vogel mit schmalen, spitzen Schwingen glitt über ihn hinweg. Auf der Linie zwischen Wasser und Luft trieb ein Licht. Tobey beobachtete eine Weile schlotternd, wie es sich bewegte, unendlich langsam von rechts nach links, von Ost nach West. Schließlich sammelte er seine Wäsche zusammen, zog Unterhose und Schuhe an und ging den Pfad zurück, den er gekommen war.
     
    Die Tür der Krankenstation war verschlossen, und so setzte er sich eine Weile auf einen der Stühle. Er wollte sehen, ob das Zittern verschwinden würde, ob er stark genug wäre. Tränen liefen ihm über die Wangen, es war noch Sand in seinen Augen. Die Verbände hatten sich mit Wasser vollgesaugt, die Pflaster längst gelöst. Der Wind war zu einem schwachen Wehen geworden, das Summen der Insekten beruhigte ihn. In seinem Zimmer stand der Koffer mit ihren Briefen, ein Bündel gewellten Papiers in einer Plastiktüte von Super Value . Megans Schrift war rund und gleichmäßig, aneinandergereiht die Strecke zwischen Kindheit und Jetzt, der Faden, der verhinderte, dass man verlorenging. Er überlegte, wo er vor zwei Jahren gewesen war, und kam auf Dublin. Das riesige Dublin, von dem er immer nur Ausschnitte gesehen hatte: den Stadtteil, das Haus, das Zimmer, den Keller, in dem sie probten, die Kneipe, wo sie tranken und sich Mut machten und regelmäßig wütend darüber wurden, dass sie zu blöd waren, um aufzuhören und endlich einen Job zu suchen: Müllmann, Kellner, Hochzeitsmusiker. Er wickelte sich das Hemd um die Hand, erhob sich und schlug die Scheibe neben der Tür ein. Ein Vogel schrie auf, wenig später ein zweiter. Mit einem Stück Holz brach er die Glasreste aus dem Rahmen und kletterte dann ins Halbdunkel des Raums. Auf einem Tisch lagen Bleistifte und alte Zeitungen und Teller mit den Resten abgebrannter Kerzen. Er hob die Teller an, unter dem dritten war der Schlüssel. Er sperrte den Schrank auf, nahm die Flaschen einzeln in die Hand, drehte Verschlüsse auf, roch an den Öffnungen. Gin hatten sie nie getrunken, das war etwas für alte englische Säcke und amerikanische Touristen. Ihr Stoff war Whisky gewesen; nicht als sie mit dem Saufen anfingen, aber später, als sie achtzehn waren und ein bisschen Geld hatten und für Bier keine Geduld mehr aufbrachten. Sie mischten ihn mit Cola, weil es besser schmeckte und schneller insBlut ging. Alles musste schneller gehen damals: das Trinken, die Musik, das Leben.
    Er setzte sich auf einen der Klappstühle, hielt die Flasche mit dem Gin in der Hand und betrachtete das Etikett, ein weißes rechteckiges Stück Papier, auf dem in verschnörkelter Schrift NARCOTICUM BRITTANNICUM LIQUIDIUM stand, zweifelsohne ein Scherz des alten Inders. Eine Weile saß er da, die Augen geschlossen, den Geruch aus der Flasche einatmend, kaum wahrnehmbar schwankend. Er hörte seine Gitarre, er spielte das Solo des Liedes »Sick of Being Homesick«, und es klang gut, aber er wusste, dass es noch besser klingen konnte, schmutziger und funkelnder zugleich.
    Er spielte das Solo zu Ende, solide und ohne die Überheblichkeit eines Club Gigs, er bewegte die Finger im Traum. Die Töne stiegen ihm unter die Schädeldecke und genügten. Irgendwann stand er auf, stellte die Flasche zurück, sperrte den Schrank ab und kletterte auf die Veranda. Schon drückte etwas Licht durch an den Stellen, wo der Himmel nicht fest genug auf dem Meer lag. Der Wind war nicht mehr spürbar. Tobey ging zum Backsteinbau und in sein Zimmer, leise, um niemanden zu wecken. Eine Eidechse schlitterte vor ihm über den Boden und verschwand unter dem Kühlschrank. Er duschte sitzend, die Kleider neben sich ausgebreitet. Das Wasser war lauwarm und roch nach Chlor. Dann stand er unter dem Ventilator und wartete, bis er trocken war. Den Anblick der Eisschollen empfand er als beruhigend, sie kühlten seine Gedanken. Nach einer Weile entdeckte er den Schatten des Hubschraubers auf einer der weißen Inseln, dann den Eisbären. Megan hätte ihm eine Geschichte zu diesem Bild erzählt, etwas Schönes und Trauriges vom ewigen Eis, dessen Ewigkeit vergänglich war, eine Legende vom Verschwinden. Ihre Stimme wäre sanft gewesen, getragen von Wehmut und uneingestandener Verbitterung.
    Als er trocken war, machte Tobey das Licht aus und legte sich auf das Bett. Der Ventilator drehte sich noch und verursachte ein leises flappendes Geräusch. Draußen schien eine Apparatur aus Millionen von Beinen und Flügeln zu arbeiten, eine knirschende Maschine, die

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