Auf den Inseln des letzten Lichts
Tür geöffnet. Der Mann trat ein, in einer Hand einen Stuhl, in der anderen das Kissen. Draußen standen zwei Männer. Einer war das bärtige Kind. Er starrte Tobey ausdruckslos an. Der zweite Begleiter des Mannes in Weiß, ein dürrer Kerl in einem bodenlangen schwarzen Umhang, dem an einem Lederriemen ein Karabiner an der Schulter hing, zog die Tür zu, ließ sie aber einen Spalt weit offen. Der Mann legte das Kissen auf den Stuhl und setzte sich. Er sah müde aus, sein Blick ging fahrig an Tobey vorbei an die Wand aus rohen Betonsteinen. Draußen wurde ein Streichholz angerissen, die Männer unterhielten sich leise.
»Ich bin dagegen, Menschen umzubringen«, sagte der Mann endlich. Sein Rücken war gerade, die Handflächen ruhten auf den Oberschenkeln. »Meiner Meinung nach rechtfertigen weder religiöse noch politische Motive Mord. Ich bin in Kanada aufgewachsen, Leute dort haben mich adoptiert. Gute Leute, Christen, sie haben mir sehr vieles ermöglicht. Ich wuchs ohne einen Tag zu hungern auf, ich konnte studieren, Reisen unternehmen. Ich habe in diesem Land viel Schönes erlebt und gesehen. Aber auch viel Hässliches, Abstoßendes. Ich war in Amerika, und dort war alles noch mächtiger, noch erschlagender. Ich wurde mit Verschwendung und Zügellosigkeit konfrontiert, die Menschen erschienen mir haltlos, leer, verloren.« Er sah Tobey an. »Waren Sie in Amerika, Tobey?«
»Nein«, sagte Tobey. »Warum erzählen Sie mir das alles?«
»Weil ich will, dass Sie wissen, warum ich handle, wie ich handle.«
Tobey senkte den Kopf. Er wäre gerne eine der Ameisen gewesen, die über die Bodenbretter liefen, halbblind und ohne ein Wissen um Gestern und Morgen, Leben und Sterben.
»Ich habe mich allem Möglichen zugewendet«, fuhr der Mann in ruhigem Ton fort. »Sport, Autos, Alkohol. Und dann, auf dem beruflichen Höhepunkt, der gleichzeitig seelischer und moralischer Tiefpunktwar, landete ich bei der Religion. Ich las die Bibel, ich ging zur Kirche, ich fand Jesus Christus. – Haben Sie Jesus Christus gefunden, Tobey?«
Tobey ließ den Kopf gesenkt.
»Antworten Sie mir, Tobey.«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Es spielt ein Rolle, weil ich Sie gefragt habe.«
»Wenn ich nein sage, werfen Sie mich dann zurück ins Meer?«, rief Tobey. »Wenn ich ja sage, hacken Sie mir vor laufender Kamera den Kopf ab? Und wenn ich sage, ich sei Muslim? Lassen Sie mich dann leben? Gut, dann bin ich Muslim! Sagen Sie mir, wo ich unterschreiben soll!«
Der Mann erhob sich, trat vor Tobey und schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht, einmal und nicht sehr heftig. Der Dürre mit dem Gewehr öffnete die Tür ein Stück weit, streckte den Kopf herein und fragte etwas. Der Mann antwortete ruhig, worauf der Dürre sich zurückzog, die Tür aber halb offen ließ.
»Sie sind ein Mann ohne Charakter, Tobey«, sagte der Mann und setzte sich wieder hin.
Tobey lachte auf. Seine Wange brannte. Der Schlag hatte ihn endgültig wach gemacht. Wut und Hass stiegen in ihm hoch, und gleichzeitig merkte er, wie sich ein seltsames Gefühl der Gelassenheit gegenüber seinem Schicksal in ihm ausbreitete.
»Was ist daran lustig?«
»Charakter.« Tobey ächzte, schüttelte den Kopf. »Ich bin in letzter Zeit so oft geschlagen und gefesselt worden, dass ich mir allmählich vorkomme wie ein Tier.«
»Der Glaube an Gott unterscheidet den Menschen vom Tier.«
»Gestern, im Meer, habe ich gebetet.«
»Sonst beten Sie nicht?«
»Es war ein Reflex. Ich hatte Todesangst.«
»Sie leben. Ihr Gott hat Sie erhört.«
»Ja, er macht sich einen Spaß daraus, mich vor einem Abgrund zu retten und mich dann an den Rand des nächsten zu stellen.«
»Er stellt Sie auf die Probe.«
Tobey lachte wieder. »Sehen Sie diese Ameisen? Ich wäre gerne einevon ihnen. Die da, zum Beispiel.« Er hob die gefesselten Füße und zertrat das Tier.
»Buddhist scheinen Sie nicht zu sein«, sagte der Mann. Er nahm die Zigaretten hervor und zündete eine an.
Tobey legte sich auf die Pritsche.
Eine Weile rauchte der Mann, die Arme verschränkt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Der Türwächter schaute herein, verwundert über die Stille. »Ihre Tätowierung, dieses Kreuz mit dem Stacheldraht«, sagte der Mann schließlich. »Es könnte das Symbol dafür sein, wie ich mich damals gefühlt habe als Christ. Ich war Anwalt, lebte in Vancouver, später in Chicago. Ich verdiente viel Geld, ich hatte eine große Wohnung, fuhr einen großen Wagen, ich ging ins Kino, ich
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