Auf den Schwingen des Adlers
keine Zeit mehr zum Grübeln.
Wie Zweige in einem reißenden Strom wurden sie von dem Gedränge mitgerissen. Bill gab acht, daß er nicht von Paul getrennt wurde und auf den Füßen blieb, um nicht zertrampelt zu werden. Es wurde noch immer viel geschossen. Ein einsamer Wachmann war auf dem Posten geblieben und schien von seinem Turm aus in die Menge zu feuern. Zwei oder drei Menschen fielen um. Es war nicht auszumachen, ob sie von Schüssen getroffen oder nur gestolpert waren. Ich will noch nicht sterben, dachte Bill. Ich hab’ noch so viel vor, mit meiner Familie, in meinem Beruf. Nicht hier und nicht jetzt ...
Sie kamen an der Offiziersmesse vorbei, wo sie erst vor drei Wochen mit Perot zusammengetroffen waren – es kam ihnen vor, als seien Jahre seitdem vergangen. Rachsüchtige Häftlinge führten sich dort wie die Vandalen auf und demolierten die Autos der Offiziere. Was sollte das alles für einen Sinn haben? Einen Moment lang schien die ganze Szenerie unwirklich, wie ein Alptraum.
Am Haupttor war das Chaos noch größer. Paul und Billhielten sich etwas abseits, lösten sich aus Furcht, totgedrückt zu werden, aus der Menge. Bill fiel ein, daß manche Häftlinge hier schon seit fünfundzwanzig Jahren einsaßen: Kein Wunder, daß sie sich wie die Berserker aufführten, als sie endlich Freiheit witterten.
Anscheinend waren die Gefängnistore noch immer verschlossen, denn eine Menge Leute versuchte, die hohe Außenmauer zu überwinden. Ein paar von ihnen standen auf Autodächern oder Lastwagen, die vor die Mauer geschoben worden waren. Andere kletterten auf Bäume und schoben sich wagemutig auf überhängenden Ästen entlang. Die meisten hatten Planken gegen die Backsteinmauer gelehnt und versuchten, sich daran hochzuhangeln. Ein paar Leuten war es auf die eine oder andere Weise schon gelungen, die Mauer zu erklimmen, und sie ließen Seile und Tücher herab, die aber nicht lang genug waren.
Paul und Bill sahen zu und fragten sich, was sie tun sollten. Zu ihnen gesellten sich andere Ausländer aus ihrem Trakt. Einer von ihnen, ein Neuseeländer, verhaftet wegen Rauschgiftschmuggels, grinste übers ganze Gesicht, als amüsiere er sich königlich. Eine Art hysterische Hochstimmung breitete sich aus, und Bill ließ sich davon anstecken. Irgendwie, dachte er, werden wir es schon schaffen.
Er sah sich um. Die Gebäude rechts vom Tor brannten. Links sah er in einiger Entfernung einen iranischen Häftling, der winkte, als wolle er sagen: Hier entlang! An diesem Teil der Mauer gab es eine Baustelle – auf der anderen Seite der Mauer wurde ein Gebäude hochgezogen –, zu der eine Stahltür den Zugang ermöglichte. Bei näherem Hinsehen entdeckte Bill, daß der winkende Iraner die Tür geöffnet hatte.
»He – schau mal da rüber«, sagte Bill.
»Gehen wir«, sagte Paul.
Sie rannten hin. Mehrere Häftlinge folgten ihnen. Sie traten durch die Tür und fanden sich in einer Art Zelleohne Türen und Fenster wieder. Es roch nach frischem Zement. Die Bauarbeiter hatten ihre Werkzeuge liegengelassen. Irgendwer griff sich einen Pickel und hackte auf die Mauer ein. Der frische Beton gab schnell nach. Zwei oder drei weitere Häftlinge machten mit, hackten mit irgendwelchen Gegenständen drauflos. Schon bald war das Loch groß genug. Sie ließen ihre Werkzeuge fallen und krochen hindurch.
Jetzt befanden sie sich zwischen den beiden Gefängnismauern. Die innere, die hinter ihnen lag, war die höhere – neun bis zehn Meter hoch. Die äußere, die zwischen ihnen und der Freiheit stand, erreichte nur etwa drei bis vier Meter Höhe.
Einem athletisch gebauten Häftling gelang es, die Mauer zu ersteigen. Ein zweiter Mann stellte sich davor und winkte den anderen. Ein dritter Gefangener trat vor. Der Mann am Boden hob ihn hoch, der auf der Mauer zog, und der Häftling gelangte hinüber.
Alles ging sehr schnell.
Paul nahm Anlauf. Bill folgte ihm auf dem Fuße und vergaß alles um sich herum. Er rannte nur. Er fühlte, wie er hochgehoben und gezogen wurde; dann war er oben, sprang und landete auf dem Pflaster.
Er rappelte sich auf.
Paul war direkt neben ihm.
Frei, dachte Bill, wir sind frei!
Am liebsten hätte er einen Freudentanz aufgeführt.
*
Coburn legte den Hörer auf und sagte: »Das war Madjid. Der Mob hat das Gefängnis gestürmt.«
»Gut«, sagte Simons. Am Morgen hatte er zu Coburn gesagt, er solle Madjid zum Gasr-Platz schicken.
Simons hat die Ruhe weg, dachte Coburn. Heute war es soweit – heute war der
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