Auf den Schwingen des Adlers
dickköpfig wie ... nun ja, wie sein Vater. Bruce hatte zu Jesus gefunden und war fest entschlossen, die restliche Menschheit – angefangen bei Oberst Simons – zu Gott zurückzuführen. Simons hatte ihn buchstäblich hinausgeworfen. Dennoch war Jesus, anders als frühere Vorlieben wie Drogen, das I Ging oder Zurück-zur-Natur-Kommunen, keine vorübergehende Laune für Bruce, und schließlich hatte er zu einem geregelten Leben als Seelsorger einer winzigen Gemeinde im bitterkalten Nordwesten Kanadas gefunden.
Wie dem auch immer sei, der Gedanke an seine Söhne quälte Simons nicht mehr. Er hatte sie nach bestem Wissen und Gewissen erzogen. Jetzt waren sie erwachseneMänner und mußten sich um sich selber kümmern. Simons kümmerte sich um Lucille.
Sie war eine hochgewachsene, hübsche Frau mit einem Faible für große Hüte. Hinter dem Steuer ihres schwarzen Cadillacs sah sie verdammt eindrucksvoll aus. In Wirklichkeit aber war sie alles andere als gewaltig. Sie war weich, unkompliziert und liebenswert. Als Tochter eines Lehrerehepaares hatte sie jemanden gebraucht, der ihr die Entscheidungen abnahm, jemanden, dem sie blind vertrauen konnte, und diesen Jemand hatte sie in Art Simons gefunden. Er für seinen Teil war ihr blind ergeben. Als er pensioniert wurde, war er bereits seit dreißig Jahren mit ihr verheiratet und hatte sich nie auch nur für eine einzige andere Frau interessiert. Lediglich sein Beruf mit den vielen Stationierungen in Übersee hatte zwischen ihnen gestanden. Jetzt war das alles vorbei. Er hatte zu ihr gesagt: »Meine Pläne für die Zeit nach der Pensionierung lassen sich in einem einzigen Wort zusammenfassen: Du.«
Sieben wundervolle, gemeinsame Jahre waren ihnen vergönnt.
Am sechzehnten März 1978 starb Lucille an Krebs.
Bull Simons war am Boden zerstört.
Jeder Mensch steht einmal vor dem Nichts, heißt es. Simons hatte immer gedacht, daß das auf ihn nicht zuträfe. Jetzt wußte er es besser: Lucilles Tod hatte ihn zu einem gebrochenen Mann gemacht. Viele Menschen hatte er getötet, und noch mehr hatte er sterben sehen, aber bisher hatte er nie begriffen, was der Tod wirklich bedeutete. Siebenunddreißig Jahre lang waren sie zusammengewesen, und jetzt, plötzlich, war sie einfach nicht mehr da.
Ohne sie schien das Leben keinen Sinn mehr zu haben. Nichts hatte für ihn mehr Bedeutung. Er war jetzt sechzig und sah nicht mehr den geringsten Sinn darin, auch nur noch einen einzigen Tag länger zu leben.
Er vernachlässigte sich. Er kochte nicht, aß direkt aus der Konservendose und ließ sein Haar, das immer kurz getrimmt war, einfach wachsen. Er begann, streunenden Hunden Asyl zu geben, und schließlich waren es ihrer dreizehn, die die Möbel zerkratzten und den Boden besudelten.
Er wußte, daß er kurz davor stand, verrückt zu werden, und nur seine eiserne Selbstdisziplin, die Bestandteil seines Charakters geworden war, bewahrte ihn vor dem Schlimmsten. Als er zum erstenmal mit dem Gedanken spielte, das Haus niederzubrennen, wußte er, daß es Irrsinn war, und schloß mit sich selbst ein Abkommen: Er wollte ein Jahr lang warten und dann weitersehen.
Er wußte, daß sein Bruder Stanley sich Sorgen um ihn machte. Stan hatte ihm gesagt, er müsse sich zusammenreißen. Er hatte ihm vorgeschlagen, Vorlesungen zu geben, hatte sogar versucht, ihn dazu zu überreden, in die israelische Armee einzutreten. Simons hatte jüdische Vorfahren, fühlte sich aber als Amerikaner und wollte nicht nach Israel. Er konnte sich einfach nicht zusammenreißen. Alles, was er konnte, war, von einem Tag auf den anderen zu überlegen.
Er brauchte niemanden, der sich um ihn kümmerte – das hatte er noch nie gebraucht. Ganz im Gegenteil, er brauchte jemanden, um den er sich kümmern konnte. Genau das hatte er sein Leben lang getan: Er hatte sich um Lucille gekümmert und um die Männer, die seinem Kommando unterstanden. Niemand konnte ihn retten, denn sein Leben lang hatte er andere gerettet. Bei militärischen Unternehmungen war es stets Simons’ Ziel gewesen, alle seine Männer lebend zurückzubringen. Der Sturm auf Son Tay wäre der perfekte Höhepunkt seiner Karriere gewesen – wenn es nur Gefangene im Camp gegeben hätte, die er hätte retten können.
So paradox es war: Die einzige Möglichkeit, Simons zu retten, bestand darin, ihn zu bitten, andere zu retten.
Die Rettung kam am zweiten Januar 1979 um zwei Uhr morgens. Das Klingeln des Telefons weckte ihn.
»Bull Simons?« Die Stimme kam ihm
Weitere Kostenlose Bücher