Auf den Schwingen des Adlers
Son Tay, einer Aktion, an der der Präsident höchstpersönlich interessiert war, war es ihm vorgekommen, als müsse er für einen einzigen neuen Bleistift sechs Anforderungsformulare ausfüllen und die Zustimmung von zwölf Generälen einholen. Und wenn er den Papierkrieg endlich hinter sich hatte, stellte sich womöglich heraus, daß die Dinger nicht vorrätig waren, daß die Lieferfrist vier Monate betrug oder – was am schlimmsten war – daß das Zeug, wenn es schließlich kam, einfach nicht funktionierte. Zweiundzwanzig Prozent der bestellten Sprengköpfe erwiesen sich als Blindgänger. Er hatte sich um Nachtvisiere für seine Sturmtruppen bemüht und erfuhr, daß die Armee auf deren Entwicklung siebzehn Jahre verwandt hatte, im Jahre 1970 aber lediglich über sechs handgefertigte Prototypen verfügte. Schließlich entdeckte er ein ausgezeichnetes, in Großbritannien hergestelltes Nachtvisier der Armalite Corporation für 49,50 Dollar das Stück, und damit rüstete er seine Son Tay Raiders für Vietnam aus.
Bei EDS gab es keine Formulare auszufüllen und keine Genehmigung einzuholen, zumindest nicht für Simons. Erbrauchte lediglich Merv Stauffer mitzuteilen, was er benötigte, und der besorgte es ihm meistens noch am selben Tag. Er bestellte und erhielt zehn Walther mit zehntausend Schuß Munition; eine Auswahl von Pistolenhalftern sowohl für Rechtsals auch für Linkshänder in unterschiedlichen Ausführungen, so daß sich jeder der Männer dasjenige heraussuchen konnte, was ihm am meisten behagte; Werkzeugsets zur Munitionsumrüstung für die Kaliber zwölf, sechzehn und zwanzig; Winterkleidung für das gesamte Team, bestehend aus Mänteln, Fäustlingen, Hemden, Socken und Wollmützen. Eines Tages bat er um hunderttausend Dollar in bar: zwei Stunden später brachte T. J. Marquez das Geld in einem Umschlag ins Seehaus.
Das war nicht der einzige Unterschied zur Armee. Seine Männer gehörten zu den intelligentesten Nachwuchsmanagern der Vereinigten Staaten. Sie waren keine einfachen Soldaten, die sich von ihm nach Bedarf zusammenstauchen ließen. Von Anfang an war ihm klargewesen, daß er hier nicht einfach das Kommando an sich reißen konnte, sondern sich ihr Vertrauen erst verdienen mußte.
Diese Männer gehorchten einem Befehl nur, wenn sie damit einverstanden waren. Waren sie anderer Meinung, diskutierten sie darüber. In einem Konferenzraum mochte das ja gut und schön sein – auf dem Schlachtfeld war es unmöglich.
Er knöpfte sich jeden einzeln vor. Seine Härte sollte ihnen vor Augen führen, daß er von nun an keine Rücksicht mehr auf ihre Bequemlichkeit nehmen würde. Auch hinter den Schießübungen und der Lektion mit dem Messer stand eine Absicht: Daß bei dieser Aktion Menschen umgebracht würden, war das letzte, was Simons wollte. Aber diese Lektionen erinnerten die Männer daran, daß es um Leben und Tod ging. Das wichtigste Element in seinem psychologischen Feldzug waren die endlosen Proben. Simons war sicher, daß das Gefängnis nicht so aussah, wie Coburn es beschrieben hatte, und daß ihr Planmodifiziert werden müßte. Ein Angriff verlief niemals nach Plan, das wußte er besser als jeder andere.
Die Proben für den Sturm auf Son Tay hatten sich über Wochen hingezogen. Auf dem Luftwaffenstützpunkt Eglin in Florida war eine vollständige Rekonstruktion des Gefangenenlagers errichtet worden. Das verdammte Ding mußte jeden Morgen vor Tagesanbruch abgebaut und nachts wieder zusammengesetzt werden, weil der sowjetische Aufklärungssatellit Kosmos 355 alle vierundzwanzig Stunden zweimal Florida passierte. Wunderschön war es gewesen, ihr Modell. Jeder gottverdammte Baum und Graben des Lagers Son Tay war nachgebildet worden. Und dann, nach all den vielen Proben, war Simons’ Hubschrauber, als es darauf ankam, am falschen Ort gelandet.
Simons würde den Moment, da er den Fehler merkte, nie vergessen. Sein Helikopter, der die Angreifer abgesetzt hatte, startete gerade wieder. Ein aufgeschreckter vietnamesischer Wachposten tauchte aus einem Schützenloch auf, und Simons schoß ihm in die Brust. Eine Schießerei brach aus, ein Lichtsignal ging hoch, und Simons erkannte, daß die Gebäude um ihn herum nicht zum Lager Son Tay gehörten. »Bringt den Scheißhubschrauber wieder her!« brüllte er seinem Funker zu und befahl einem Hauptmann, das Strobolight einzuschalten, um damit die Landezone zu markieren.
Er wußte, wo sie waren: auf einem Gelände ungefähr vierhundert Meter von Son Tay
Weitere Kostenlose Bücher