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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Ausgrabungen verbracht, in Kenia und Budapest und Griechenland, hatte die Menschheitsgeschichte zurückverfolgt. Es war ein so wesentlicher Teil ihres Lebens, daß es erschreckend war, wie ein Schlag auf den Kopf ihn auslöschen konnte.
    Vorsichtig berührte sie den Oberschenkelknochen des rekonstruierten Hähnchens. »Will«, sagte sie, und als sie aufsah, strahlten ihre Augen. »Ich weiß, was ich arbeite.«

3
     
    Jane hatte Will besser gefallen, bevor sie sich daran erinnert hatte, daß sie Anthropologin war. Immer wieder versuchte sie ihm ihr Fachgebiet zu erklären. Die Anthropologie, sagte sie, erforsche, wie der Mensch sich in seine Umgebung einfügt. Soviel verstand er, aber was sie sonst noch erzählte, war für ihn nur Kauderwelsch. Während sie Montag abend zur Polizeizentrale fuhren, gab sie ihm einen kurzen Abriß über die besten Methoden, ein Skelett auszugraben. Als Watkins sie befragte, meinte sie, bis jemand sie abholen käme, könne sie gern bei der Gerichtsmedizin aushelfen. Und jetzt, am Morgen darauf, versuchte sie, während Will sich durch eine Schale Cornflakes schaufelte, ihm die Evolution des Menschen zu erläutern.
    Sie zog Linien über ihre Serviette und benannte jede einzelne Abzweigung. Will ahnte allmählich, warum ihr Mann sich nicht blicken ließ. »Das ist mir zuviel«, sagte er. »So früh am Morgen kann ich nicht mal rechnen.«
    Jane ging nicht darauf ein. Als sie fertig war, seufzte sie und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Mein Gott, es tut so gut, etwas zu wissen.«
    Will war der Meinung, daß es wahrscheinlich Wissenswerteres gab, aber das sagte er nicht. Er deutete auf einen Punkt auf der Serviette. »Warum sind sie ausgestorben?«
    Jane runzelte die Stirn. »Sie konnten sich nicht in die Umwelt einfügen«, sagte sie.
    Will schnaubte. »Ach ja? Kann ich meistens auch nicht.« Er griff nach seinem Hut und wollte gehen.
    Janes Augen leuchteten auf, als sie ihn ansah. »Ich würde zu gern wissen, ob ich etwas wirklich Bedeutendes entdeckt habe, etwas wie das Lucy-Skelett oder diese Gletschermumie in den Tiroler Alpen.«
    Will lächelte. Er stellte sich vor, wie sie im roten Wüstensand über einer Ausgrabungsstelle kauerte, ganz von ihrer Arbeit eingenommen. »Wenn Sie möchten, können Sie ja im Garten graben«, sagte er.
    An jenem Dienstag morgen ließ die Polizei Janes Bild mit der Bitte um sachdienliche Hinweise in der L. A. Times abdrucken, und Jane erinnerte sich an die Entdeckung »ihrer« Hand.
    Als Will gegangen war, machte sich Jane auf den Weg zur nächsten Stadtbücherei. Es war nur eine Zweigstelle, aber sie hatte eine kleine, gut sortierte Abteilung mit archäologischen und anthropologischen Büchern. Sie suchte sich das neueste Buch heraus, hockte sich an den polierten Tisch und begann zu lesen.
    Die vertrauten Wörter riefen Bilder in ihrem Gedächtnis wach. Sie sah sich, wie sie in England, auf dem Land, neben einer offenen Grube kniete, in der wild durcheinander die Überreste einer archaischen Eisenzeitschlacht lagen. Sie erinnerte sich, Erde von den Knochen gebürstet zu haben; die Scharten auf einem Brustbein betastet zu haben, die von Lanzen und Pfeilspitzen geschlagen worden waren; an eine Wirbelsäule, die nur eine Enthauptung so sauber durchtrennt haben konnte. Sie hatte damals als Assistentin gearbeitet, entsann sie sich: die Fundstücke mit Tusche beschriftet, Tabletts voller Knochen zum Trocknen in die Sonne getragen.
    Dann blätterte Jane um und sah »ihre« Hand. Genau wie damals, als sie sie in Tansania entdeckt hatte, versteinert in einer Schicht Sedimentgestein und einen steinernen Faustkeil umklammernd. Zu Hunderten hatten Anthropologen Tansania auf der Suche nach Überresten von den Steinwerkzeugen durchkämmt, zu deren Entwicklung die ersten Menschen ihrer Meinung nach intellektuell fähig gewesen waren. Sie war dem Beispiel ihrer Kollegen gefolgt und war nach Afrika gefahren, um eine vergessene Ausgrabungsstätte wieder zu öffnen.
    Sie hatte gar nicht gesucht, als sie die Hand gefunden hatte. Sie hatte sich einfach nur umgedreht, und da lag sie, genau auf Schulterhöhe, so als habe sie die ganze Zeit nach ihr greifen wollen. Eine versteinerte Hand zu finden war ein außergewöhnlicher Glücksfall; dünne Knochen blieben nur selten erhalten. Damit Skelette versteinern konnten, durften weder Tiere noch Wasser, noch Erdbewegungen ihre Ruhe stören, und wenn Teile eines Skeletts verlorengingen, dann meistens die Extremitäten.
    Noch

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