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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Finger in meine Schulter gruben und wie meine Rippen bei jedem Atemzug stachen. Tja, Barbara, hätte ich sagen können, zum einen schlägt er mich. Und sein Vater hat ihn schrecklich mißhandelt. Und wir bekommen bald ein Kind, aber das weiß er nicht, weil ich mich so vor seiner Reaktion fürchte, daß ich es ihm noch nicht gesagt habe.
    Mühsam entspannte ich mich in Alex’ Umarmung. »Nichts«, antwortete ich, und meine Stimme war fast nur ein Flüstern. »Nichts, was Sie mir glauben würden.«

19
     
    Ich hatte mir immer vorgestellt, wenn ich mich eines Tages umbringen sollte, würde in meinem Abschiedsbrief stehen: DU HAST GEWONNEN. Nicht daß es ein Spiel gewesen wäre - aber selbst wenn es ganz schlimm stand, wußte ich, daß Alex immer noch besser schauspielern konnte als ich; daß er, sollte ich unter dem Druck zusammenbrechen und irgend jemandem die Wahrheit anvertrauen, immer noch sein Gesicht würde wahren können. Und wem würde man in Los Angeles, jener Stadt, über die er herrschte, wohl glauben?
    Aber der wahre Grund, warum ich nie jemandem die Wahrheit über unsere Ehe erzählen konnte, hatte weniger mit meiner Angst, man würde mir nicht glauben, als mit Alex selbst zu tun. Ich wollte ihm einfach nicht weh tun. Wenn ich ihn vor mir sah, dann nicht mit geballten Fäusten und über mir. Ich sah ihn, wie er mit mir auf der Veranda tanzte, wie er mir die Smaragdkette umlegte, die er mir eben mitgebracht hatte, wie er sich in mir bewegte und mich verzauberte. Das war Alex für mich. Das war der Mann, mit dem ich immer noch mein Leben verbringen wollte.
    Ich hätte ihn nie verlassen, wenn es nicht auch um jemand anderen gegangen wäre. Aber ich zwang mich, mir insgeheim ein Ultimatum zu setzen. Noch ein einziges Mal, dachte ich, wenn du noch ein einziges Mal dieses Leben in mir gefährdest, dann verlasse ich dich. Ich versuchte, mir einzureden, daß ich nicht vorhatte, Alex zu verlassen, sondern daß ich mein Kind retten wollte. Weiter wollte ich einfach nicht denken, weil ich so inständig hoffte, daß es nicht dazu kommen würde.
    Aber dann, am Tag bevor er nach Schottland abflog, hatte Alex erfahren, daß sein Interview in Barbara Walters’ Sendung an zweiter und nicht an letzter Stelle ausgestrahlt werden würde. Er war abergläubisch davon überzeugt, daß das ein Orakel für die Oscarverleihung im März war. Er würde keinen Oscar bekommen; er würde auf ganzer Linie versagen. All das hatte er mir erklärt, dann hatte er zugeschlagen.
    Den Rest kennst du ja. Aufgrund der Kopfwunde bin ich wohl in Ohnmacht gefallen, aber erst nachdem ich das Haus verlassen hatte, denn ich war noch so weit bei Sinnen, daß ich wegging. Ich begegnete dir ganz zufällig am Friedhof von St. Sebastian, und du hast dich um mich gekümmert, bis Alex aus Schottland angedüst kam und mich nach Hause brachte.
    So hatte sich der Kreis geschlossen: Ende Februar, ein paar Tage nachdem du mich auf dem Polizeirevier Alex übergeben hattest, stand ich in meinem begehbaren Schrank und wollte packen, damit ich mit Alex nach Schottland fliegen konnte. Dann fand ich die Schachtel mit dem überzähligen Schwangerschaftstest. Und ich versuchte mit aller Kraft zu glauben, daß ich ein Stück von Alex mit mir nehmen würde, wenn ich wieder fortlief.
    Eine Stunde nachdem ich die Villa verlassen hatte, war ich aus Bel-Air heraus, aber ich wußte nicht, wohin ich sollte. Die Banken hatten zu, und ich hatte nicht einmal zwanzig Dollar in meinem Portemonnaie. Ich dachte nicht an dich, nicht gleich. Wieder spielte ich mit dem Gedanken, zu Ophelia zu gehen; und wieder konnte ich das nicht, weil Alex genau damit rechnen würde.
    Zu einem Kollegen von der Universität zu gehen behagte mir nicht, und in meinem Büro konnte ich mich auch nicht verstecken, weil Alex mich dort als nächstes suchen würde. Und dann fiel mir ein, was du Mittwoch morgen zu mir gesagt hast und wie du mich nach Alex’ Prügelei im Le Dome angesehen hast. Ich wußte, daß du mich aufnehmen würdest; vielleicht hatte ich das schon gewußt, bevor ich das Haus verließ, deshalb wartete ich an der Straßenecke auf einen Bus, der mich nach Reseda bringen würde.
    Dein Haus würde zehnmal in unseres passen, und die Bäume in deinem Vorgarten stehen alle mehr oder weniger kurz vor dem Verenden, aber trotzdem habe ich noch nie ein so einladendes Heim gesehen. Warmer gelber Kerzenschein dringt aus dem Fenster auf die Veranda vor dem Haus, und als ich in das Licht trete, fühle ich

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