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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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mich beschützt, nicht bloßgestellt.
    Du öffnest die Tür, noch bevor ich klopfen kann. Du scheinst kein bißchen überrascht, mich zu sehen; es ist, als hättest du die ganze Zeit auf mich gewartet. Du ziehst mich in den kleinen Flur und schließt die Tür hinter mir. Es kommt mir ganz natürlich vor, daß du kein Wort sagst, bevor du mir über den Rücken, die Rippen, die Hüften streichst und immer wieder kurz innehältst, als würdest du durch meine Bluse hindurch die Stellen erahnen, auf die er mich geschlagen hat, und die Hitze spüren, die von vergangenen Schmerzen ausstrahlt.
    Und, Will, nachdem du damit fertig bist, siehst du mich an. Deine Augen sind düster wie die von Alex während eines Wutanfalls. Ich erwidere deinen Blick und weiß nicht, wie oder wo ich anfangen soll.
    Das brauche ich auch nicht. Du legst die Arme um mich und läßt mich an deinem Herzschlag die Zeit messen. Ich presse immer noch die Fäuste an meine Seite und stehe steif in der Umarmung eines anderen Mannes. »Cassie«, flüsterst du in mein Haar, »ich glaube dir.« Draußen schluchzt eine Eule. Ich schließe die Augen, sinke langsam in dein Vertrauen und lasse los.

1993
     
    Vor langer Zeit, als die Welt gerade entstanden war, lebten sechs junge Frauen in einem Dorf neben einem großen Felsen. Eines Tages gingen sie, wie es Sitte war, Kräuter sammeln, während ihre Männer auf der Jagd waren. Eine Weile grub jede Frau mit ihrem Grabstock vor sich hin, doch dann fand eine der Frauen etwas Neues zu essen.
    »Kommt und versucht das hier«, sagte sie zu ihren Freundinnen. »Diese Pflanze schmeckt köstlich!«
    Innerhalb weniger Minuten aßen alle sechs Frauen süße Zwiebeln. Die Zwiebeln schmeckten so lecker, daß die Frauen aßen, bis die Sonne unterging. Eine der Frauen sah auf in den dunklen Himmel. »Wir sollten heimgehen und unseren Männern etwas kochen«, meinte sie, und alle kehrten nach Hause zurück.
    Als die Männer an jenem Abend nach Hause kamen, waren sie erschöpft, aber glücklich, denn jeder hatte einen Silberlöwen erlegt. »Was riecht hier so schrecklich?« fragte ein Mann, als er in der Tür zu seiner Hütte stand.
    »Vielleicht ist es verdorbenes Essen«, meinte ein anderer Ehemann. Aber als sie sich vorbeugten, um ihre Frauen zu küssen, merkten sie, woher der Gestank kam.
    »Wir haben etwas Neues zu essen gefunden«, sagten die Frauen begeistert. Sie streckten ihnen die Zwiebeln entgegen. »Hier, versucht das.«
    »Sie riechen widerlich«, meinten die Männer. »Wir werden das nicht essen. Und ihr werdet nicht mit uns in einer Hütte bleiben, wenn ihr so stinkt. Ihr müßt heute nacht draußen schlafen.« Also nahmen die Frauen ihre Sachen und schliefen unter den Sternen.
    Als die Männer am nächsten Tag wieder auf die Jagd gegangen waren, kehrten die Frauen an den Fleck zurück, wo sie die wilden Zwiebeln ausgegraben hatten. Sie wußten, daß der Geruch ihren Männern zuwider war, aber die Zwiebeln waren so köstlich, daß die Frauen sie einfach essen mußten. Sie schlugen sich die Bäuche voll und streckten sich auf der weichen, roten Erde aus.
    An jenem Abend kehrten die Ehemänner mürrisch und gereizt zurück. Sie hatten keine Silberlöwen gefangen. »Wir haben wie eure Zwiebeln gestunken«, beschuldigten sie ihre Frauen. »Deshalb sind die Tiere fortgelaufen. Es ist alles eure Schuld.«
    Die Frauen glaubten ihnen nicht. Sie schliefen eine zweite Nacht draußen, und eine dritte, bis schließlich eine ganze Woche vergangen war. Die Frauen aßen weiterhin die leckeren Zwiebeln, und die Männer konnten keine Silberlöwen fangen. Wütend schrieen die Männer ihre Frauen an. »Geht weg! Wir können euren Zwiebelgestank nicht ertragen!«
    »Wir finden draußen aber keinen Schlaf«, entgegneten die Frauen.
    Am siebten Tag nahmen die Frauen ihre gewebten Seile mit, als sie zu den Zwiebeln gingen. Eine Frau trug ihre kleine Tochter auf dem Rücken. Sie erklommen den großen Felsen neben ihrem Dorf und blickten in die untergehende, blutrote Sonne.
    »Wir sollten unsere Männer verlassen«, schlug eine der Frauen vor. »Ich will mit meinem nicht mehr leben.«
    Alle Frauen waren einverstanden.
    Die älteste Frau stellte sich auf den Felsen und rief ein Zauberwort. Sie warf ihr Seil in den Himmel, und es schlang sich über eine Wolke, so daß die Enden herabhingen. Die anderen Frauen banden ihre Seile an jenes, das über der Wolke schaukelte, dann stellten sie sich auf die aufgezwirbelten Seilenden. Langsam

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