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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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begannen sie zu steigen. Sie wiegten sich in der Luft wie Stare. Sie zogen Kreise, flogen aneinander vorbei und stiegen immer höher.
    Die anderen Bewohner des Dorfes sahen die Frauen in den Himmel fliegen. »Kommt zurück!« riefen sie den Frauen zu, als sie über ihrem Lager schwebten. Aber die Frauen und das kleine Mädchen kehrten nicht um.
    Als die Männer an jenem Abend heimkehrten, waren sie hungrig und einsam. Sie wünschten sich, sie hätten ihre Frauen nicht vertrieben. Einer von ihnen hatte den Einfall, den Frauen mit dem gleichen Zauber zu folgen. Die Männer liefen in ihre Hütten und holten ihre Seile, und bald stiegen auch sie in den Himmel auf.
    Die Frauen schauten herab und sahen, daß ihre Männer ihnen folgten. »Sollen wir auf sie warten?« fragte eine Frau ruhig.
    Die anderen zeterten und schüttelten die Köpfe. »Nein! Sie haben uns weggeschickt. Wir werden nicht warten, bis sie uns eingeholt haben.« Sie tanzten und schwangen ihre Seile immer höher. »Im Himmel sind wir bestimmt glücklicher.«
    Als die Männer so nahe waren, daß sie ihre Frauen hören konnten, riefen die Frauen ihnen zu, daß sie nicht näherkommen dürften, und die Männer verharrten auf ihrem Platz, ein kleines Stück hinter ihren Frauen.
    Und so blieben die Frauen, die die Zwiebeln liebten, im Land des Himmels. Dort sind sie immer noch, sieben Sterne, die wir Plejaden nennen. Der schwächste darunter ist das kleine Mädchen. Und die Männer, die nicht ohne ihre Frauen heimkehren wollen, folgen ihnen in kurzem Abstand, sechs Sterne im Sternbild Stier. Noch heute kann man sehen, wie sie zu ihren Frauen aufleuchten und sich vielleicht wünschen, alles wäre anders gekommen.
     
    Legende der Monache-Indianer

20
     
    Im Dunklen, unter einem Beutel mit guter Medizin, erzählte Cassie Will ihr Leben. Sie redete die ganze Nacht. Manchmal sah Will sie nur an; manchmal hielt er sie, während sie weinte. Und als sie schließlich verstummte, seufzte er und ließ sich in seine fast neue Couch zurücksinken. Er war sich der peinlichen, erdrückenden Stille schmerzlich bewußt. Cassie saß neben ihm, mit gesenktem Kopf, die Hände zwischen die Knie gepreßt.
    Will hätte nicht sagen können, woher, aber er hatte gewußt, daß Cassie irgendwann vor seiner Tür stehen würde. Noch bevor sie sich das Hemd über dem Bauch glattstrich, hatte er gewußt, daß sie schwanger war. Er hatte gewußt, daß es seine Aufgabe sein würde, sie verschwinden zu lassen. Eines aber konnte er nicht begreifen – wie sie selbst jetzt noch Angst haben konnte, Alex zu verletzen.
    »Ich muß einfach eine Weile untertauchen«, erklärte sie abrupt und riß Will damit aus seinen Gedanken. Sie nickte langsam, als versuche sie, sich zu überzeugen. »Jetzt haben wir Ende Februar, und das Baby kommt im August.«
    »Vielleicht irre ich mich«, wandte Will vorsichtig ein; seine ersten Worte seit Stunden. »Aber ich glaube nicht, daß Alex sechs Monate lang tatenlos herumsitzen und auf dich warten wird.«
    Cassie sah ihm in die Augen. »Auf wessen Seite stehst du?«
    Das Problem war, daß Alex Rivers sie mit seinem Geld und seinen Verbindungen überall aufspüren konnte. »Was ich brauche«, sann Cassie nach, »ist ein Ort, an dem er mich nicht mal im Traum vermutet.«
    Und in diesem Moment verstand Will, warum die Geister ihn vor einer Woche vor St. Sebastian mit Cassie zusammengeführt hatten. Er sah die Teerpappehütten vor sich, die in Pine Ridge als Häuser dienten, die Weidenskelette der Schwitzhütten, die wie die Gebeine mythischer Urtiere auf der Ebene vor sich hin rotteten. Wie alle anderen hatte auch die Regierung die Sioux einfach vergessen; die meisten Amerikaner ahnten nicht, daß in ihrem Land heute noch Menschen unter solchen Bedingungen lebten. Das Reservat hätte in jeder Hinsicht auf dem Mond liegen können.
    Will lauschte Cassies leichtem, seufzendem Atem und drehte ihre Handfläche in seiner Hand nach oben, als könne er ihre Zukunft daraus lesen. »Ich glaube«, sagte er leise, »ich weiß das ideale Versteck für dich.«
    Und so stieg Will Flying Horse, nachdem er kaum zwei Wochen in Los Angeles verbracht hatte, in ein Flugzeug, um an jenen Ort zurückzukehren, der ihm mehr als jeder andere auf der Welt verhaßt war.
    Als er zum Umsteigen in Denver landete, schnürte es ihm die Kehle zu, und ihm wurde schwindlig. Schon jetzt sah er den roten Staub im Pine-Ridge-Reservat vor sich; die leeren Augen der Lakota, die nur darauf warteten, daß ihr

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