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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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mit der Hand über den Stapel Kleider, den sie für Schottland gepackt hatte; Kleider, die jetzt nichts mehr zu bedeuten hatten. Verdammt noch mal, die letzten Tage waren ideal verlaufen. Er hatte sich unter Kontrolle gehabt, hatte aufgepaßt, daß nicht alles wieder von vorne anfing. Und es hatte funktioniert: wenn er Cassie berührte, dann sanft und zärtlich, wie sie es verdiente. Und im Gegenzug hatte er beobachtet, wie Cassie sich ihm Stück für winziges Stück öffnete - ein Kuß hier, eine Frage dort, eine Erinnerung. Alex hatte diese Augenblicke gesammelt wie wilde Blumen, hatte auf den Augenblick gewartet, wo sie ihm wieder ganz und gar gehören würde, ein üppiger Blumenstrauß, der in seiner Gegenwart erblühte.
    Er hatte ihr die Vergangenheit wiedergegeben, von ein paar Details abgesehen, die sie sich offenbar selbst zusammengereimt hatte. Er hatte Cassie nie weh tun wollen, nein, doch nicht Cassie, und jedesmal, wenn er zuschlug, schwor er sich, daß es nie wieder vorkommen würde. Das war nicht nur so dahingesagt; er meinte es ehrlich. Wenn er einen Weg gewußt hätte, diesen irrsinnigen Zorn auf sich selbst statt auf sie zu lenken, dann hätte er das augenblicklich getan.
    Alex richtete sich auf und schaute hinaus in den verregneten Morgen. Die vergangene Nacht hatte er größtenteils damit verbracht, gemeinsam mit John die Straßen von Bel-Air abzufahren. John hatte sogar ganz diskret bei der Polizei nachgefragt. Keine Flug- oder Buslinie hatte einen Passagier ihres Namens verzeichnet, weder Ehe- noch Mädchenname. Schließlich hatte Alex aufgegeben. Er hatte schlaflos im Schlafzimmer gesessen und einfach darauf gewartet, daß sie zu ihm zurückkam.
    Sie mußte zurückkommen. Wenn die Presse herausfand, daß Cassie ihn verlassen hatte oder auch nur, daß sie vermißt wurde, würden alle möglichen Gerüchte aufkommen – über Affären, eine Scheidung, vielleicht sogar die traurige Wahrheit. Wie auch immer, die Schlagzeilen würden seine Chancen auf die Oscars erheblich verringern. Er hatte immer auf seinen makellosen Ruf zählen können.
    Alex fuhr sich mit der Hand über das stopplige Kinn. Sie mußte zurückkommen. Ohne sie konnte er nicht leben. Cassie war der einzige Mensch in seinem ganzen Leben, der in sein Innerstes geblickt, der die feine, leuchtende Seele befreit und immer wieder betont hatte: Ja, du bist gut. Ihm fiel ein, wie sie einmal im Redwood Forest zwei Riesensequoias gesehen hatten, die sich so ineinander verschlungen hatten, während sie sich derselben Sonne entgegenstreckten, daß sie schließlich zu einem einzigen Baum zusammengewachsen waren. Niemandem außer sich selbst würde er je eingestehen, daß Cassie schlicht und einfach der Punkt war, an dem Alexander Riveaux aufhörte und Alex Rivers begann.
    Um Punkt neun Uhr schloß ein Hausmeister Alex die Tür zu Cassies Büro in der Universität auf. » Danke «, sagte er und sah den Mann an, unentschlossen, ob er ihm ein Trinkgeld geben solle oder nicht. Alex zog die Tür zu, prüfte, ob der lederne Drehstuhl noch warm war, suchte nach irgendeinem Hinweis darauf, daß sie vor kurzem hiergewesen war.
    Er war gerade dabei, die Papiere auf ihrem Schreibtisch zu durchwühlen, als die Tür aufging. »Guten Morgen«, tönte eine kiesrauhe Stimme. Alex schaute auf und sah Archibald Custer auf sich zukommen, eine Hand auf dem Mikrofon an der Kehle. »Oh.« Er suchte mit den Augen den Raum nach Cassie ab. »Man hatte mir gesagt, Ihre Frau sei krank. Als ich das Licht sah, dachte ich… Also, ich wollte mal nach ihr schauen.«
    »Sie ist nicht hier«, antwortete Alex mit einer Handbewegung. »Wie Sie wahrscheinlich bemerkt haben.«
    Archibald Custer sah ihn eigenartig an. »Aber Sie sind hier«, sagte er.
    Alex schaute auf seine Hände, die einen braunen Schnellhefter mit dem Aufdruck PERSÖNLICH UND VERTRAULICH umklammerten. Seine Gedanken überschlugen sich: Cassie war nicht hier. Cassie hatte Custer nicht verraten, wo sie war, sonst würde er sie nicht suchen. »Sie hat mich gebeten, ihr ein paar Sachen nachzuschicken«, meinte Alex und gab sich vollkommen überrascht, als Custer die Brauen hochzog, weil Alex damit andeutete, daß Cassie nicht in L. A. war. »Ach… wahrscheinlich hat sie noch keine Zeit gehabt, Sie anzurufen. Ihr Vater liegt im Krankenhaus, in Maine, und braucht jemanden, der sich um ihn kümmert.« Er warf einen Blick auf die Uhr, eine Standardgeste. »Bestimmt wird sie sich bald mit Ihnen in Verbindung setzen. Ein

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