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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Luxus, in dem Alex lebte, war ihr fast ein bißchen unangenehm gewesen, aber dies hier war das andere Extrem. Hier war sie mitten im Nichts, umgeben von Leuten, die kein fließendes Wasser kannten und in kaputten Schulbussen lebten. Sie bohrte die Fingernägel in die Handflächen, um Will nicht an der Jacke zu packen und ihn anzubetteln, er möge sie heimbringen.
    Cassie biß sich auf die Lippe und wagte einen Blick auf Will. Jetzt konnte sie sich vorstellen, welchen Schmerz er mit sich herumschleppte, wie schwer seine Vergangenheit an seinen Mundwinkeln zog. Was für ein Gefühl es wohl war, endlich hier herausgekommen zu sein und dann ein paar Wochen später von einer Fremden wieder hergeschleppt zu werden? Als Cassie sich zu ihm hinüberbeugte und seine Hand drückte, erwiderte Will die Geste, aber erst, nachdem sie das Erstaunen in seinen Augen bemerkt hatte.
    Er steuerte den Pick-up vor ein kleines Zementsteinhaus. Augenblicklich begann ein schwarzer Köter zu heulen, der an einem Zaunpfahl festgebunden war. Will sprang aus dem Wagen und kniete vor dem Hund nieder. »Hallo, Wheezer«, sagte er. Der Hund wedelte so eifrig mit dem Schwanz, daß er umfiel. »Hast du mich vermißt?«
    Cassie blieb eine Sekunde im Auto sitzen, um Atem zu schöpfen und ihre Gedanken zu sammeln. Als sie ausstieg, versank sie bis zu den Knien im Schnee. Sie stapfte zu Will und dem Hund hin. »Liegt hier immer so viel Schnee?«
    Beim Klang ihrer Stimme schrak Will zusammen, als habe er sie vollkommen vergessen. »Eigentlich ist er schon ziemlich weggeschmolzen«, antwortete er, während er sich zu ihr umdrehte. »In den meisten Wintern sind die Schneewehen größer als du.«
    Wheezer sprang an Will hoch und legte ihm die Pfoten auf die Brust. Er legte die Ohren an und jaulte. Will schaute über den Hund hinweg auf die Haustür, die langsam aufschwang.
    Cassie sah einen Mann auf die Veranda vor dem Haus treten. Er war so groß wie Will, aber die Haut schien lose über seinen Knochen zu hängen. Sein Gesicht war walnußbraun und von so vielen Falten durchzogen, daß es fast wieder glatt wirkte. Er kam die Stufen herunter, blieb vor Will stehen, murmelte etwas auf Lakota und umarmte ihn.
    Cassie trat nervös von einem Fuß auf den anderen und schlug die Schuhe gegeneinander, um den Schnee abzuklopfen. Wheezer schnupperte auf der Suche nach Futter an ihrer Hand. »Tut mir leid«, flüsterte sie, »aber ich habe nichts für dich.«
    Die leisen Worte ließen Will und seinen Großvater aufschauen. Doch bevor Will sie seinem Großvater vorstellen konnte, tauchte eine Frau in der Tür auf. Ein langer, weißer Zopf lag über ihrer Schulter; ihre Augen glühten wie heiße Kohlen. Kampfbereit hatte sie die Fäuste in die Hüften gestemmt, und als sie mit tiefer Stimme zu reden begann, sprach sie ein akzentfreies Englisch. »Aha«, sagte sie zu Will, wobei sie Cassie keine Sekunde aus den Augen ließ. Ihre Augen wanderten von Cassies Haar zu den schneenassen Knien hinab und zuckten dann, offensichtlich unzufrieden, wieder nach oben. »Du kommst aus der großen Stadt heim, und das da bringst du uns mit?«
    Cyrus und Dorothea Flying Horses Haus war eines von ungefähr tausend, die im Rahmen eines staatlichen Programms für Sioux-Senioren erbaut worden waren. Die beiden waren erst vor zehn Jahren dort eingezogen; einen großen Teil seiner Jugend hatte Will in einer Blockhütte ähnlich jenen verbracht, an denen sie auf ihrer Fahrt durch das Reservat vorbeigekommen waren. Die Regierungshäuser galten nach Lakota-Maßstäben als luxuriös. In ihnen gab es fließendes Wasser und Strom und eine zeitweise funktionierende Toilette. Abgesehen von einem winzigen Bad an einem Ende des Hauses bestand das ganze Gebäude aus einem einzigen Raum.
    Die Kochnische, in der Cassie jetzt saß, war sehr sauber und sah aus, als sei sie aus Resopalresten gefertigt, die aus den fünfziger Jahren übriggeblieben waren. Die Arbeitsflächen waren avocado-grün mit winzigen Goldsprenkeln, der in der Wand verankerte Tisch war aus rosa Marmorimitat. Es gab ein paar unlackierte Hängeschränke ohne Tür, aber die meisten Dosen und Gläser standen unter der Spüle und der Arbeitsfläche auf Bretter- und Ziegelregalen. Auch ein Kühlschrank war vorhanden – ein echt antikes Gerät mit riesigem Ventilator obendrauf -, der alle paar Sekunden schnaufend erbebte.
    Der Rest des Hauses bestand aus einem großen Wohnbereich und dem »Schlafzimmer«, das mit einem Kattunvorhang abgetrennt

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