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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Notfall in der Familie, Sie verstehen.« Er tippte mit dem Schnellhefter auf die Tischkante. »Soll ich ihr etwas von Ihnen ausrichten? Oder ihr etwas mitschicken?«
    Custer stand einen Moment unschlüssig da und ließ den Blick über die achtlos herumliegenden Akten und das Chaos wandern. Er schüttelte den Kopf. »Es wird jemand für sie einspringen, bis sich die Situation geklärt hat«, verkündete er gnädig. »Sagen Sie ihr, sie braucht sich keine Sorgen zu machen.«
    »Nein«, meinte Alex, »das wird sie bestimmt nicht.« Er wartete, bis Custer verschwunden war, und ließ sich dann auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch sinken. Herrgott, er half Cassie sogar. Er hatte eben ihre Flucht gedeckt. Gedankenverloren starrte er auf den braunen Hefter, die undeutlichen Schwarzweißfotos überall auf dem Schreibtisch. Mehrere Schädel, ein Becken, ein paar Knochen, die einst vielleicht Finger gewesen waren. Nichts Ungewöhnliches für Cassie. Mit solchen Sachen hatte sie sich schon beschäftigt, bevor er sie überhaupt kennengelernt hatte.
    Er war aufgestanden und zur Tür hinausgegangen, ohne eine Ahnung zu haben, wohin er sollte. Er kreuzte durch die gewundenen Straßen auf dem Campus, bis er an den Highway nach Westwood kam. Ophelias Apartment erkannte er nur an der knorrigen Palme davor, von der Cassie immer behauptet hatte, sie erinnere sie an einen alten Mann.
    Alex hämmerte mit der Faust gegen die Tür. »Verdammt noch mal, mach auf, Ophelia. Ich weiß, daß sie da drin ist.« Er atmete tief durch und wollte schon die Tür mit der Schulter aufstemmen, wie es seine Stuntleute immer gemacht hatten.
    Ophelia zog die Tür eine Handbreit auf. Durch den dunklen Spalt wehte der Rauch ihrer Zigarette. »Himmel«, murmelte sie. »Kriege ich etwa eine Scheißaudienz?«
    Sie hakte die Kette aus und öffnete die Tür. Sie trat in einem pfirsichfarbenen, praktisch durchsichtigen Chiffonmorgenrock vor Alex. Darunter trug sie nichts; leidenschaftslos stellte Alex fest, daß der Schatten zwischen ihren Beinen nicht zu den Haaren auf ihrem Kopf paßte. Sie blies ihm einen Rauchring in die Augen. »Was verschafft mir die Ehre?« fragte sie und rieb sich die Nasenwurzel.
    »Ich komme Cassie holen«, erklärte Alex, während er sich schon an Ophelia vorbei in das winzige Wohnzimmer des Apartments drängte.
    Er spürte Hände an seinem Rücken, wie die Füße winziger Vögel, die ihn erfolglos zurückzuhalten versuchten. »Vielleicht solltest du lieber da nachschauen, wo sie ist«, meinte Ophelia. »Seit ich neulich in eurem Apartment war, habe ich nicht mal mehr mit ihr gesprochen. Ich dachte, sie sei in Schottland – mit dir.«
    Alex warf einen Blick hinter die bodenlangen Vorhänge, riß Schranktüren auf. »Du bist eine miserable Lügnerin, Ophelia. Sag mir einfach, wo sie sich versteckt.« Er rumpelte in die Küche, sah in der Speisekammer und in den Unterschränken nach, wobei er eine halbleere Flasche Cabernet umwarf.
    Als er sich zu Ophelia umdrehte, waren ihre Augen so groß, daß rund um die Iris das Weiße zu sehen war. Gut, er hatte sie eingeschüchtert. Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. »War sie gestern abend bei dir? Hat sie dir verraten, wohin sie wollte?«
    Ophelia stieß einen leisen Schrei aus, und plötzlich quietschte die Schlafzimmertür. Alex ließ Ophelia augenblicklich los, rannte um die Ecke und prallte gegen einen schlaftrunkenen Mann in einem geblümten Seidenmorgenmantel.
    »Alex, das ist Yuri. Yuri, das ist Alex.« Ophelia drückte ihre Zigarette in einer aufgeschnittenen, fauligen Orange auf der Anrichte aus. »Siehst du, Alex? Ich habe Cassie nicht beherbergt. Ich war anderweitig beschäftigt.«
    Alex machte sich nicht einmal die Mühe, sie anzusehen. »Raus hier«, knurrte er Yuri an.
    Plötzlich glomm ein Funken des Erkennens in Yuris Augen auf. »Hey«, sagte er, »sind Sie nicht -«
    »Raus!« brüllte Alex. Er schubste Yuri zur Tür und sperrte ihn, immer noch in Ophelias Morgenmantel, aus der Wohnung aus.
    Kreischend und kratzend stürzte sich Ophelia auf Alex. »Wie kannst du es wagen«, schrie sie. »Du kommst in meine Wohnung marschiert, als würde dir die ganze Scheißwelt gehören, und -«
    »Ophelia«, sagte Alex leise und mit einem Beben in der Stimme. »Ich kann sie nicht finden. Ich habe überall gesucht. Ich kann Cassie nicht finden.«
    Gedankenverloren rieb sich Ophelia mit der Hand über ihren schwarzen Gips, während sie Alex Rivers auf ihre fleckige Couch sinken

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