Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult

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seine Brille aufsetzen und auf die Schatten der Worte linsen konnte, die ihm nicht einfallen wollten.
    Sein Gesicht war zerfurcht wie die schroffe Landschaft der Badlands, jener unirdischen Flecken in den Black Hills, wo, wie er als Kind geglaubt hatte, böse Geister hausten. Inzwischen wußte er natürlich, daß das Böse sich nicht in Felsbrocken festsetzte. Statt dessen schlüpfte es in die Menschen und wurde zu einem unverwechselbaren Teil ihres Wesens, genau wie ihr Geruch oder ihre Fingerabdrücke. Hatte er es nicht in den glitzernden blauen Augen des wasicun-Beamten im Büro für Indianische Angelegenheiten gesehen? In den müden Mundwinkeln des Bankers, der seinen allerersten Lieferwagen beschlagnahmt hatte? In dem benebelten, betrunkenen Blick des Vertreters, dessen schleuderndes Auto vor hundert Jahren seinen einzigen Sohn getötet hatte?
    Cyrus seufzte und beugte sich wieder über das zerknitterte Papier. Manche Lösungen wollte er einfach nicht begreifen: Marias Mann war mit Trump ausgefüllt; und Berts Kumpel war allem Anschein nach Ernie. Er freute sich besonders, wenn er eine Antwort fand, ohne Arthurs Lösung zu Hilfe nehmen zu müssen. »Aufschrei der Gierigen«, las er laut und tippte sich mit dem Stift gegen die Schläfe. Er beugte sich noch tiefer über seinen Schoß und füllte bedächtig die Buchstaben in die kleinen Kästchen. MEINS.
    »Bei ihm gibt’s was auf die Löffel«, murmelte Cyrus immer wieder vor sich hin, wobei er, in der Hoffnung auf einen Geistesblitz, jedesmal ein anderes Wort betonte.
    »Koch«, antwortete eine Stimme hinter ihm; dann ein leises Lachen. Er hatte Dorothea nicht einmal heimkommen sehen, doch er nickte und schrieb die plötzlich sonnenklare Lösung nieder. Er rollte den Stift in das Kreuzworträtsel ein, stand auf und stampfte sich den Schneematsch von den Stiefeln. Dann folgte er seiner Frau in ihr Einzimmerhaus.
    Dorothea schüttelte sich den Parka von den Schultern und begann, Styroporbehälter mit Krautsalat und Truthahnbraten auszupacken, dem Tagesmenü im Angebot. Nervös wie zwei einsame Vögel flatterten ihre Hände über das Plastiktischtuch. Schließlich setzte sie sich hin und sah ihren Mann mit leuchtenden schwarzen Augen an. »Heute«, erklärte sie ihm. »Uyelo. Er kommt.«
    Cyrus betrachtete die plumpe Wölbung ihrer Hüften, den schweren, weißen Zopf, der sich über ihren breiten Rücken schlängelte. Sie war den Geistern immer verbunden gewesen. Er ließ sich behäbig auf den Stuhl gegenüber ihrem sinken und tat so, als würden ihn ihre mystischen Anspielungen ärgern. Es war ein altes Spiel, eines, das sie jetzt seit sechzig Jahren spielten. Er stach mit der Gabel in den Truthahnbraten. »Du bist verrückt, Frau«, knurrte er und meinte eigentlich: Du bist mein Leben. »Woher willst du das wissen?« fragte er. Du verblüffst mich immer noch.
    Dorothea gab einen undefinierbaren Laut von sich. Dann drehte sie den Kopf und schnupperte, als trüge ihr der Chinook, der warme Frühlingswind, die Antworten zu. Schließlich sah sie ihn wieder an, mit ruhigem, dunklem Blick, und zielte mit einem krummen, knotigen Finger auf ihn. »Paß nur auf«, sagte sie, und hinter ihrer Warnung spitzte die Spur eines Lächelns hervor. Sie griff über den Tisch und faßte Cyrus’ Hand mit einer Kraft und Überzeugung, die sein Herz schneller schlagen ließ. Er sah zu ihr auf. Ich liebe dich, hörte er sie deutlich in der wortlosen Stille sagen. Du sollst immer an meiner Seite gehen.
    Alex tätigte zwei Anrufe. Erst telefonierte er mit Herb Silver und wies ihn an, die Produktion von Macbeth auf unbestimmte Zeit zu verschieben; alle Kulissen und Requisiten in Schottland einlagern zu lassen und alle Beteiligten nach Hause zu schicken, bis er neue Anweisungen gab. Dann rief er Michaela an, damit sie sich auf die Publicity gefaßt machen konnte, die eine so abrupte Drehplanänderung auslösen würde. »Mir egal, was du durchsickern läßt«, meinte Alex müde. »Denk dir was aus, das nicht so klingt, als sei ich auf Entzug in der Betty-Ford-Klinik.«
    »Was ist wirklich passiert, Alex?« wollte Michaela wissen, aber Alex’ Kehle war wie zugeschnürt. Er legte auf, bevor er ihr erzählen mußte, was geschehen war.
    Cassie hatte ihn verlassen. Noch einmal.
    Aber diesmal war es anders. Es hatte keinen Streit, keinen Anlaß gegeben. Sie war einfach gegangen, so als hätte sie diesen Schritt schon länger geplant.
    Alex ließ sich rückwärts auf das Bett fallen und strich