Auf den zweiten Blick
sah. Orte und Möglichkeiten schössen ihr durch den Kopf, die Alex bestimmt längst überprüft hatte. Was konnte Cassie dazu treiben, so überstürzt zu verschwinden? Falls es an Alex lag, dann hätte Cassie doch wissen müssen, daß Ophelia alles getan hätte, um ihr zu helfen.
Ophelia richtete sich auf und ging auf Alex zu, bis sie genau vor ihm stand. »Was hast du mit ihr gemacht?« Ihre Stimme klang angespannt und kalt.
Alex vergrub das Gesicht in den Händen. »Mein Gott«, flüsterte er, »ich weiß es nicht.«
Die Fahrt vom Flughafen in Rapid City bis nach Pine Ridge dauerte zwei Stunden, und während sich Cassie in dem gemieteten Pick-up durchschütteln ließ, fiel ihr zweierlei auf: daß das Land sich wie ein Meer ohne jede Begrenzung in der Ferne verlor und daß Will sich immer mehr verkrampfte, je tiefer sie in diesen aufwirbelnden roten Staub hineinfuhren.
An der Reservatsgrenze stand ein Polizist, der Will mit erhobener Hand grüßte und dann Cassie auf dem Beifahrersitz musterte. »Hau, köla!« sagte er. Er begann in einer Sprache zu reden, die Cassie nicht verstand. Zu ihrer Überraschung nahm Will die Sonnenbrille ab und fing an, sich mit dem Polizisten in dieser Sprache zu unterhalten, bevor er den Wagen auf einen Grasweg lenkte.
»Was hat er gesagt?« fragte Cassie.
»Er hat hallo gesagt«, brummte Will. »Auf Lakota.«
»Lakota?«
»Die Sprache des Volkes.«
Cassie strich sich eine lose Strähne aus dem Mundwinkel. »Ist Köla dein Sioux-Name?«
Will konnte nicht anders, er mußte lachen. »Nein, das heißt >Freund<.«
Cassie entspannte sich. Wenn sie eben erst ins Reservat gekommen waren und Will gleich einen guten Bekannten getroffen hatte, dann war das ein gutes Omen. »Er ist also ein Freund von dir«, sagte sie, um das Gespräch nicht absterben zu lassen.
»Nein«, antwortete Will. »Das ist er nicht.« Er fuhr mit den Händen über das Lenkrad, sagte sich, daß Cassie kein Recht hatte, weitere Erklärungen zu verlangen, und wußte doch genau, daß sie keine Ruhe geben würde, bis er ihr mehr erzählte. »Er ist bei der Stammespolizei. Wir waren zusammen in der Schule. Einmal hat er drei Kinder angestiftet, mich festzuhalten, und mir dann Hundescheiße ins Gesicht geschmiert.« Entsetzt staunte Cassie ihn an. »Damit meine Haut nicht mehr so weiß wäre.«
»Kinder können grausam sein«, murmelte Cassie, weil sie das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen.
Will schnaubte. »Indianer auch.«
Cassie schaute wieder durch die Windschutzscheibe und fragte sich, woher Will wußte, wohin er fahren mußte. Es gab keine Straßen, nur Trampelpfade durch den Schnee oder schmale Spuren wie von Langlaufskiern. Hin und wieder bog Will links oder rechts ab. Kein einziges Mal wandte er den Blick von der weiten Fläche vor ihnen. »Weißt du«, meinte Cassie unsicher, »vielleicht solltest du diesem Land eine Chance geben und nicht immer nur daran denken, wie sehr du es haßt.«
Will stieg auf die Bremsen, bis der kleine Pritschenwagen schlitternd zum Stehen kam. Cassie wurde erst in den Sicherheitsgurt gepreßt und dann zurück in den Sitz geworfen. Instinktiv legte sie die Hände auf den Bauch. Will starrte sie fassungslos an, dann schaute er zutiefst angewidert wieder nach vorn und fuhr weiter.
Das ernüchterte sie. Schließlich nahm Will - der sie eigentlich kaum kannte – ziemlich viel auf sich, um ihr eine Zuflucht zu verschaffen. Sie hatte kein Recht, in seinem Leben herumzuschnüffeln, geschweige denn, daß sie seine Lebensweise kritisierte. »Es tut mir leid«, sagte sie.
Will antwortete nicht, aber er nickte knapp. Gleich darauf machte die leere Ebene einer kleinen Ansammlung von Baracken Platz – zum Teil festere Holzhütten, zum Teil Schuppen aus Gipsplatten und Teerpappe. Drei Kinder rannten in Sommerschuhen und kurzärmligen Hemden durch den Schnee und schlugen mit Kiefernzweigen nacheinander. »Das sind deine nächsten Nachbarn«, sagte Will. Er fuhr langsamer und zeigte auf die jeweiligen Häuser. »Charlie und Linda Laughing Dog, Bernie Collier, Rydell und Marjorie Two Fists. Abel Soap lebt hinter dem Hügel da drüben, in dem Bus.«
Cassie versuchte, das hysterische Lachen zu unterdrücken, das ihr in die Kehle stieg. Gestern noch hatte sie in einer grünen Marmorwanne mit vergoldeten Armaturen gebadet. Sie war auf Teppichen gewandelt, die weicher waren als ein Hauch, und hatte sich in einen Morgenmantel aus violetter chinesischer Seide gehüllt. Der unermeßliche
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