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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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hatten, daß die Krieger zuerst aßen, daß es als unhöflich galt, zwischen einem Menschen und dem Feuer hindurchzugehen. Cassie wußte nicht, ob diese Bräuche immer noch Bestand hatten, aber sie hatte das Gefühl, daß hier Regeln galten, in die sie nicht eingeweiht worden war und die sie sich selbst erarbeiten mußte.
    Sie begann, indem sie die Zeitschriften ordnete. Cyrus blickte einmal von seinen Nadeln auf, grunzte und strickte weiter. Als Cassie zwei ordentliche Stapel aufgeschichtet hatte, stand sie auf und ging in die Kochnische. Sie suchte in den Regalen herum, bis sie einen Stapel weißer Wischtücher entdeckte, seifte eines davon ein und begann, den Kühlschrank abzuschrubben.
    Dorothea schenkte ihr keine Beachtung; sie nahm nicht einmal zur Kenntnis, daß Cassie weniger als einen Meter von ihr entfernt war. »Wissen Sie…« - Cassies Stimme war viel zu laut und durchdringend für das winzige Haus -, »ich habe einen Freund an der Universität, einen Anthropologen, der sich auf die amerikanischen Ureinwohner spezialisiert hat.« Sie verschwieg, daß dieser Mann ein Kulturanthropologe war und sie deshalb in den letzten drei Jahren kaum ein Wort mit ihm gewechselt hatte. Statt dessen zermarterte sie sich das Gehirn, um sich seine Vorlesungen und ihre eigenen Studien ins Gedächtnis zu rufen.
    »Um die Wahrheit zu sagen«, fuhr Cassie fort, »ich weiß gar nichts über die Indianer. Ich weiß nicht, was Will Ihnen erzählt hat, aber mein Fachgebiet liegt viel weiter in der Vergangenheit.« Sie spülte ihren Lappen im Waschbecken aus. »Abgesehen von den Waffen«, ergänzte sie. »Mit Waffen kenne ich mich ziemlich gut aus. In meiner Dissertation ging es um das Thema Gewalt, ob sie erlernt oder angeboren ist -« Cassie hielt inne. Das klang wie Ironie, angesichts der Tatsache, was aus ihrer Ehe geworden war. Als niemand ihr antwortete, redete sie weiter. »Mal sehen… ich weiß noch, daß es einen Stamm in Clovis in New Mexico gab, der die steinerne Pfeilspitze erfunden hatte. Dadurch wurde es natürlich viel leichter, Mammuts zu töten…« Cassie verstummte und stellte sich vor, wie dieser Nomadenstamm vor vierzigtausend Jahren ein riesiges, bebendes Untier abschlachtete; wie Cyrus’ Großvater vor hundertfünfzig Jahren auf vielleicht ganz ähnliche Weise Büffel gejagt hatte. Sie verbiß sich jedes weitere Wort, weil ihr aufging, daß sie klang, als würde sie eine Vorlesung halten. Über ihren Kopf hinweg tauschten Cyrus und Dorothea einen Blick: Ist die immer so?
    »Na ja«, schloß Cassie leiser. »Wahrscheinlich wissen Sie das alles schon.« Sie hätte sich ohrfeigen können, weil sie wie eine Lokomotive losgedonnert war, statt ganz still abzuwarten.
    Dorothea trat zu ihr, wrang den tropfenden Wischlappen aus, hängte ihn übers Waschbecken und bedeutete Cassie mit ihren Händen, daß sie es so haben wolle. Sie schaute sich in der blitzblanken Küche um, nickte und zog dann ihren Parka an. Auf ihrem Weg zur Tür blieb sie kurz vor Cassie stehen, packte mit starken Fingern Cassies Kinn und hob ihr Gesicht an. Sie sagte etwas auf Lakota, eine seltsame Folge von Klicklauten und Silben, die für Cassie schmeichelnder als ein Wiegenlied klangen.
     
    Nachdem Dorothea zur Tür hinaus war, stellte sich Cyrus ans Fenster und sah ihr nach, wie sie zur Nachmittagsschicht ging. Er wußte, was Cassie gleich fragen würde. »Sie sagt, du solltest eines nicht vergessen, solange du beim Volk bist«, übersetzte er. »Was für dich Forschungsmaterial ist, sind für uns unsere Ururgroßvater.«
    Er drehte sich nicht vom Fenster weg, aber er hob die Hand und winkte Cassie herbei. Sie stand auf und ging zu ihm, und er legte den Arm um sie, allerdings wirkte diese Geste eher wie ein Rippenstoß als wie eine Umarmung. Seine langen, geraden Finger ruhten auf ihrem Schlüsselbein. Cassie blickte neben Cyrus auf die verlassene Landschaft und begriff, daß er weder das Meer von Schnee noch die Autoskelette, noch die rissigen Plastikplanen sah, die am Haus eines Nachbarn flatterten. Statt dessen sah er das Land, wo die Schritte seiner Ahnen unter seinen eigenen lagen; das Land, das - genau darum – seine Heimat war.
    Will setzte sich in den Decken auf, die ihm als Bett dienten, und betrachtete Cassie, die auf dem ausziehbaren Sofa schlief. Als er noch bei seinen Großeltern gewohnt hatte, war das sein Bett gewesen; jetzt drückte sich ihr Leib in die Matratzenkuhle, die sein Körper in langen Jahren geformt hatte.
    Er war

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