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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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war. Auf einem rostfarbenen Läufer standen ein Sofa und ein Sessel, die nicht zusammenpaßten. In einer Ecke des Sofas lag ein Wollknäuel, von ein paar Stricknadeln durchbohrt; in der anderen Ecke eine Ledertasche, die zur Hälfte kunstvoll mit blauen Perlen bestickt war. Eine große Kabeltrommel von der Art, wie sie beim Überlandleitungsbau verwendet wurde, diente als Couchtisch und war mit Stapeln drei bis vier Jahre alter Zeitschriften beladen.
    Das Schlafzimmer, wohin sich Will mit seinen Großeltern zurückgezogen hatte, hatte Cassie noch nicht zu sehen bekommen. Sie hörte die drei flüstern, nein, eher zischen, aber das machte keinen Unterschied, da sie sich ohnehin auf Lakota unterhielten. Sie trommelte mit den Fingern auf den Resopaltisch und zählte bis zehn. Mit den Knöcheln fuhr sie sich über die kleine Wölbung ihres Bauches. Vergiß nicht, sagte sie im stillen, ich tue das nur für dich.
    Will kam als erster und mit ernster Miene hinter dem Vorhang hervor. Dann folgte seine Großmutter mit vor der Brust verschränkten Armen, und schließlich sein Großvater. Es war schwieriger gewesen, als er erwartet hatte, da Cyrus und Dorothea noch nie von Alex Rivers gehört hatten und folglich auch nicht verstehen konnten, warum Will Cassie ausgerechnet nach Pine Ridge bringen mußte. Er hatte seinen Großeltern alles erzählt, auch von den Mißhandlungen und von Cassies Schwangerschaft, aber jetzt bauten sich beide vor ihr auf und musterten sie, als sei sie ein billiges Flittchen, das sich alles selbst zuzuschreiben hatte.
    » Cassie Barrett«, sagte Will, wobei er absichtlich ihren angeheirateten Namen wegließ, »das sind meine Großeltern, Cyrus und Dorothea Flying Horse. Sie würden sich freuen, wenn du bei ihnen bleiben würdest, bis das Baby kommt.«
    Cassie spürte, wie Hitze von ihrem Magen und ihren Brüsten aufstieg, bis sie knallrot im Gesicht war. Es war keine Scham, redete sie sich ein, sondern Erleichterung. »Danke«, sagte sie leise und streckte beiden die Hand entgegen. »Sie wissen gar nicht, wie sehr Sie mir damit helfen.«
    Weder Cyrus noch Dorothea nahm Cassies Hand. Sie wartete eine Sekunde; dann wischte sie sich die Hand am Mantel ab und ließ sie hilflos herabhängen.
    Will stellte sich neben sie und beugte sich zu ihrem Ohr. »Ich werde mir was ausdenken, um dich mit ihnen allein zu lassen«, murmelte er. »Glaub mir; sie müssen dich einfach erst mal kennenlernen.« Er drückte Cassies Schulter und wandte sich dann wieder an seine Großeltern. Dorothea hatte sich bereits in die Kochnische zurückgezogen und spülte ab. »Ich geh’ mal rüber zu Abel Soap, mal nachsehen, ob er überhaupt noch lebt«, erklärte Will leichthin. »Er schuldet mir fünfzig Mäuse.« Er schlenderte zur Tür, wo Wheezer schon auf ihn wartete. »Nicht vergessen«, ermahnte er seine Großeltern. »Englisch. Ihr habt es mir versprochen.«
    Die Tür fiel mit einem lauten Seufzer hinter Will ins Schloß. Hilflos starrte Cassie darauf. Über das plätschernde Wasser hinweg konnte sie hören, wie Dorothea auf Lakota vor sich hinmurmelte. Ab und zu warf die alte Frau einen Blick über die Schulter, als wolle sie nachsehen, ob Cassie schon gegangen war. Dabei konnte sie Englisch; sie hätte Cassie zumindest eine Chance geben sollen. Cassie richtete sich auf und wandte sich an Cyrus. »Können Sie mir übersetzen, was sie sagt?« fragte sie.
    Cyrus hob die Achseln und ging zur Couch. »Sie wünscht, Will hätte dich mitgenommen.«
    Ein paar Minuten blieb Cassie mitten im Zimmer stehen, unentschlossen, ob sie lieber losheulen oder aus dem Haus marschieren und gleich bis nach Rapid City weitergehen solle. Cyrus ließ sich in der Mitte des Sofas nieder, das unter seinem leichten Körper aufstöhnte, und griff nach dem Strickzeug. Er schlang sich die Wolle um den Finger und klickte die Nadeln immer schneller aneinander, bis es wie Zähneklappern klang. Dorothea spülte das Geschirr fertig ab und begann dann, den sauberen Küchenboden zu wischen.
    Wills Großeltern zeigten beide nicht die geringste Neigung, Cassie willkommen zu heißen oder sich mit ihr zu unterhalten, und beide schienen ihr Verhalten nicht besonders unhöflich zu finden. Cassie erinnerte sich undeutlich an einen Kollegen, der als Dissertation einen, wie er es nannte, »Tipi-Knigge« der Prärieindianer des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben hatte. Sie konnte sich vage entsinnen, daß Frauen auf der einen und Männer auf der anderen Seite zu sitzen

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